Im ARD-Samstagskrimi „Blutspur Antwerpen“ spielt Marie-Lou Sellem die Ermittlerin. Die 58-Jährige gilt als eine der besten Charakterdarstellerinnen des Landes. Dennoch sieht man die Deutsch-Französin selten in Hauptrollen. Ein Interview über einen schwierigen Beruf - und die eigenen hohen Ansprüche.
Schauspielerin Marie-Lou Sellem„Ich wundere mich oft, dass ich noch da bin“

Endlich mal wieder in einer prominenten Hauptrolle zu sehen: Marie-Lou Sellem als belgische Ermittlerin Louma Shapiro in „Blutspur Antwerpen“. Es ist der Debütfilm einer eventuell neuen Krimireihe. Das Erste zeigt ihn am Samstag, 22. März, um 20.15 Uhr. (Bild: © Maud Sellem)
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Ein Interview mit Marie-Lou Sellem ist ungewöhnlich, denn die 58-Jährige tut sich mit Eigen-PR schwer. Lieber sagt sie, was ihr an einem Projekt nicht gefallen hat, als es zu loben. Das betrifft auch die eigene Leistung. Die Ansprüche der in Göttingen geborenen Deutsch-Französin sind hoch. Oft spielt sie in Arthaus-Produktionen, neuerdings arbeitet die Wahl-Berlinerin auch an eigenen Filmen. Dass sie in „Blutspur Antwerpen“ (Samstag, 22. März, 20.15 Uhr, Das Erste) die Hauptrolle in einem für den Mainstream konzipierten TV-Krimi spielt, ist eher ungewöhnlich. Trotzdem sieht man auch hier Sellems hohe schauspielerische Qualität. Im Interview spricht sie über ihre persönliche langjährige Geschichte mit der flämischen Metropole Antwerpen und ihre schwierige Reise als Schauspielerin. Ein Beruf, den sie ungewöhnlich offen von seinem Glamour-Faktor befreit.
teleschau: Wie lange kennen Sie bereits Antwerpen?
Marie-Lou Sellem: Schon lange, weil ich bereits in jungen Jahren sehr an Mode interessiert war. Antwerpen ist eine Mode-Stadt, und ich fuhr früher zu den Ausverkäufen dorthin. Leider habe ich eine Menge Geld in der Stadt gelassen (lacht). Ich bin ja halbe Französin und besitze auch ein Haus in der Bretagne. Auf dem Rückweg von der Bretagne steht Antwerpen immer wieder mal auf dem Routenplan für einen Stopp.

Kommissarin Louma Shapiro (Marie-Lou Sellem) und ihr Kollege Pierre Didier (Miguel Francisco) ermitteln - zum ersten Mal - in Antwerpen. Ein männliches Modell wurde am Hafen kaltblütig und bewusst erschosssen. Hat der Fall mit einem riesigen Blutdiamanten zu tun? (Bild: © ARD Degeto Film/Nicolas Velter)
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teleschau: Was macht die Stadt aus?
Marie-Lou Sellem: Sie hat viele Gesichter und ist teilweise auch ganz schön heruntergekommen. Die Innenstadt mit ihren tollen Bauten aus Renaissance und Mittelalter ist natürlich toll, aber in den letzten Jahrzehnten kam viel moderne Architektur dazu. Natürlich ist es eine Hafenstadt, in der man viele Nationen trifft. Antwerpen hat aber auch ein Problem mit Drogen und Kriminalität, ganz Belgien hat dieses Problem. Es gibt Viertel, in denen Menschen mit Migrationshintergrund unter schweren sozialen Bedingungen leben. Und es kommt mir härter vor, als das was ich aus Deutschland kenne.
„Ich verstehe Alter als Form der Diversität“
teleschau: Also ist Antwerpen ein guter Ort, um einen Krimi zu erzählen?
Marie-Lou Sellem: Ich finde schon, aufgrund der geschilderten Eigenschaften. Wir haben zum Beispiel mit Original SWAT-Teams, also Polizeikräften gedreht, die dort arbeiten. Sie haben uns erzählt, wie hart ihre Arbeit oft ist. Es gibt viele soziale Themen in Belgien, das ja auch lange keine stabile Regierung hatte. Man blickt auf eine sehr blutige Kolonialgeschichte zurück, zum Beispiel im Kongo. Mit deren Aufarbeitung hat das Land spät begonnen und sich schwer damit getan.

Die Ermittler untersuchen das Opfer in der Hafengegend von Antwerpen: Louma Shapiro (Marie-Lou Sellem, rechts) sowie ihre Kollegen Pierre Didier (Miguel Francisco) und Michelle Wouters (Maéva Marie Mathilde Roth) müssen herausfinden, wer Jean-Baptiste Kalemba (Pahuni Kongolo Kakesse) auf dem Gewissen hat. (Bild: © ARD Degeto Film/Nicolas Velter)
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teleschau: Sie spielen in einem sehr internationalen Ensemble. In Antwerpen spricht man eigentlich Flämisch. In welcher Sprache wurde gedreht?
Marie-Lou Sellem: Das meiste auf Deutsch, aber es wurde auch Englisch und Französisch gesprochen. Vieles wurde hinterher synchronisiert. Es gab auch Flamen im Ensemble, aber die sprechen alle gut Französisch, weil es ja zweite Landessprache ist. Manche von ihnen haben sich später selbst auf Deutsch synchronisiert, andere nicht. Das Team wiederum sprach meistens Französisch. Es war ein bunter, sehr angenehmer Haufen. Der Film ist wunderbar divers besetzt. Viele People of Colour, aber auch ältere Schauspieler. Ich verstehe Alter als Form der Diversität. Und es gibt einige ältere tragende Rollen im Film.
teleschau: Es ist ein Krimi, der auf Fortsetzung angelegt ist - oder?
Marie-Lou Sellem: Dazu kann ich nichts sagen. Wenn man sich die Art des Formats anschaut, könnte es schon sein. Ob es aber tatsächlich dazu kommt, ist von vielen Faktoren abhängig.
„Man ist ziemlich alleine gelassen in diesem Beruf“

Ermittlerin Michelle Wouters (Maéva Marie Mathilde Roth) steht ihrer Chefin Louma Shapiro (Marie-Lou Sellem, links) zur Seite. (Bild: © ARD Degeto Film/Nicolas Velter)
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teleschau: Sie haben im letzten Jahr auch Ihren ersten eigenen Film gedreht. Ein Dokumentarfilm, der viel Lob erhielt. Worum geht es in „Die Schule der Frauen“, den man in der Mediathek sehen kann?
Marie-Lou Sellem: Es geht ums Älterwerden, vor allem ums Älterwerden als Frau. Ich habe jene fünf Frauen, mit denen ich vor 36 Jahren an der Folkwang-Schule in Essen Schauspiel studiert habe, kontaktiert und als Protagonistinnen des Films gewinnen können. Keine hatte nach der Schule noch Kontakt mit einer der anderen. So schaut der Film auf fünf Leben und Karrieren zurück. Es sind fünf Porträts, und am Ende stoßen sie auf den jetzigen Jahrgang der Studierenden. Viele sagen, es sei ein Film über das Leben, damit kann ich gut leben (lacht).
teleschau: Wie blicken Sie selbst auf Ihre bisherige Karriere zurück?
Marie-Lou Sellem: Ich wundere mich oft, dass ich noch da bin. Es klingt kokett, aber ich meine das genau so. Man ist ziemlich alleine gelassen in diesem Beruf. Vor allem in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Sofern man nicht Teil eines Theater-Ensembles ist, gibt es immer wieder große Lücken im Leben, die man in keinerlei Kontext verbringt. Also: keine Arbeit - und niemand fragt nach dir. Da muss man ziemlich stark sein, um nicht zu verbittern. Man hört oft von Projekten und Chancen, die verheißungsvoll klingen, dann aber nicht klappen. Ich wollte mal eine fiktive Biografie der Dinge schreiben, die bei mir nicht geklappt haben. Vielleicht wäre sie interessanter als die echte (lacht).

In diesem Samstagabendkrimi trifft sich alles, wofür Antwerpen steht: Kommissarin Louma (Marie-Lou Sellem) trifft ihren jüdischen Vater Louis Shapiro (Moisej Bazijan, einen Diamantenhändler. Auch der Hafen, die Mode und das Multi-Kulti-Flair der flämischen Großstadt spielen eine Rolle in „Blutspur Antwerpen“. (Bild: © ARD Degeto Film/Nicolas Velter)
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teleschau: Sie hatten zwischendurch immer mal wenig zu tun?
Marie-Lou Sellem: Es gibt kaum Schauspielende, die ständig zu tun haben. Aber diese Leute überwiegen natürlich in der Wahrnehmung. Weil man von all den anderen nichts oder wenig sieht. Ich habe parallel eine Heilpraktiker-Ausbildung gemacht und danach noch eine Therapieausbildung. Fand ich sinnvoll und spannend, weil die Schauspielerei viel mit diesen Feldern, also Körper und Seele, zu tun hat.
„Ego-Boosting funktioniert nicht bei mir“
teleschau: Was war die größte Chance, die bei Ihnen nicht geklappt hat?
Marie-Lou Sellem: Sie liegt noch gar nicht so lange zurück. Es war der Film „Tár“ von Todd Field, der 2023 für sechs Oscars nominiert war. Cate Blanchett spielt die Hauptrolle. Ich spielte darin eine durchaus relevante Rolle, die aber komplett dem Schnitt zum Opfer fiel. Ich war die Chefin der Berliner Philharmonie und hatte einige Szenen mit Cate Blanchett. Künstlerisch verstand ich die Entscheidung sogar, sie hatte auch nichts mit mir zu tun. Trotzdem verändert so etwas vielleicht das ganze Leben. So krass kenne ich das eigentlich nur aus dem Schauspiel.

Die Kommissare Louma Shapiro (Marie-Lou Sellem) und Pierre Didier (Miguel Francisco, rechts) finden ihrem neuen Vorgesetzten Laurentius van Bodeck (Bertrand Leplae) nicht ganz so sympathisch. (Bild: © ARD Degeto Film/Nicolas Velter)
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teleschau: Mal blöd gefragt - wie hält man das aus?
Marie-Lou Sellem: Man muss wahnsinnig gute Nerven haben und mit Misserfolg umgehen können. Das meine ich, wenn ich sage, dass ich froh bin, noch hier zu sein. Ich bin dankbar für diese Karriere, sie ist in diesem Beruf alles andere als selbstverständlich. Der Erfolg hat oft gar nicht viel mit Qualität zu tun, sondern mit Zufällen und Glück. Ich hatte auf jeden Fall viel Glück.
teleschau: Ist es ein Ego-Boosting, wenn man die Hauptrolle am Samstag, 20.15 Uhr, im Ersten spielt?
Marie-Lou Sellem: Ego-Boosting funktioniert nicht bei mir. Ich schaue immer sehr kritisch auf meine Arbeit und sehe viel schneller Fehler als Gelungenes. Am wichtigsten ist mir das Gesamtergebnis. Dass der Film oder die Serie gut ist. Wir waren letztes Jahr mit der ARD-Serie „37 Sekunden“ für den Grimme-Preis nominiert, haben ihn leider nicht bekommen. Für viele Kollegen sind Preise sehr wichtig. In meinem Fall verändern sie mein Gefühl zur Arbeit überhaupt nicht. Ich stelle mir eigene Aufgaben in meinen Rollen- zusätzlich zur Regieanweisung - und versuche, diese Aufgabe dann zu erfüllen. Es ist manchmal etwas anstrengend mit mir selbst (lacht).
„Den Honig ziehe ich aus den Menschen, die mich umgeben“
teleschau: Wenn Sie der eigenen Arbeit so kritisch gegenüberstehen, woraus ziehen Sie dann den Honig, den man braucht, um zufrieden oder glücklich zu leben?
Marie-Lou Sellem: Den Honig ziehe ich aus den Menschen, die mich umgeben. Aus freundschaftlichen Begegnungen, meiner Familie und doch sehr aus der Arbeit.
teleschau: Wie geht es weiter bei Ihnen?
Marie-Lou Sellem: Ich arbeite gerade an meinem zweiten eigenen Film. Diesmal wird es etwas Fiktionales sein. Ich bin aber ein bisschen abergläubisch, daher werde ich nichts weiter darüber erzählen. (tsch)