1977 schuf Giorgio Moroder mit Donna Summers „I Feel Love“ den ersten komplett elektronischen Disco-Song und läutete damit ein neues Pop-Zeitalter ein. Noch heute lebt die Utopie weiter, die sein Electrodisco-Sound verkörperte. Sein Schöpfer indes beteuert, er könne gar nicht tanzen. Am 26. April wird der italienische Produzent 85,
Sie nannten ihn GiorgioDer Mann, der den Sound der Zukunft erfand, wird 85

Markenzeichen Schnurrbart: Giorgio Moroder auf dem Cover seines Albums „E=MC2“ von 1979. (Bild: Sony Music)
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Spätestens seit den 1980er-Jahren ist elektronische Musik ein essenzieller Bestandteil der weltweiten Popkultur. Ob Techno, House, Synthie-Pop oder diverse Hybrid-Genres: Der Synthesizer hat die Popmusik genauso revolutioniert wie einst die Elektrogitarre.
Vor allem das Nachtleben in den Großstädten hat sich durch elektronische Musik von Grund auf verändert. Aus dem bloßen Zeitvertreib ist durch die futuristischen Klänge mehr geworden: die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Musik als Ausdruck einer Utopie. Wenn die meisten schon lange schlafen, feiern Raver und Raverinnen in den Clubs ein alternatives Leben abseits des Alltagszwangs.
Ironischerweise befindet sich der Mann, der als Pionier dieser Musik gilt, zu diesem Zeitpunkt selbst längst im Bett. Schon als er noch aktiv Musik machte, arbeitete Giorgio Moroder tagsüber und ging früh schlafen, um am nächsten Tag in alter Stärke weiterzumachen. Disco sei ohnehin nichts für ihn, verriet er 2015 der Agentur teleschau. „Ich kann nicht tanzen und will auch nicht so recht.“ Dabei hat er die Utopie der Clubs erst ermöglicht - wenn auch mehr oder weniger durch Zufall.
Durch einen Zufall revolutionierte Giorgio Moroder die Popmusik
Als Disco-Produzent war Giorgio Moroder, der am 26. April 1940 in Südtirol auf die Welt gekommen ist, schon lange etabliert, als er, sein Songwriting-Partner Pete Bellotte und die Sängerin Donna Summer auf die Musik der Zukunft stießen. 1975 hatte das Trio seinen ersten großen Hit mit „Love To Love You Baby“, einem Disco-Song, der so erotisch war, dass Plattenboss Neil Bogart darauf bestand, dass die Album-Version eine ganze LP-Seite einnehmen sollte: Bei einer Dauer von 17 Minuten konnten die Hörerinnen und Hörer dazu tatsächlich „Liebe“ machen.
Doch Moroder und Bellotte, der vor allem für die Songtexte und Albumkontexte zuständig war, während Moroder am Sound schraubte und Summer den Songs Leben einhauchte, hatten größere Ambitionen. Vor allem der Fantasy-Fan Bellotte kam immer wieder mit Album übergreifenden Konzepten um die Ecke. So bestand Donna Summers Album „Four Seasons“ aus vier Songs, von denen jeder für eine Jahreszeit stand: Vivaldi für die Disco.

Der Schnurrbart ist ab: Giorgio Moroder feiert am 26. April 2025 seinen 85. Geburtstag. (Bild: 2024 Getty Images/Vittorio Zunino Celotto)
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Eines von Bellottes Konzepten inspirierte Moroder dann auch, den Sound der Zukunft zu erfinden - und das ganz bewusst. 1977 erschien mit „I Remember Yesterday“ Summers fünftes Album, natürlich mit Konzept: Jeder Song stand für ein Jahrzehnt. Es gab einen Song im Big-Band-Stil der 1920-er, eine Huldigung an die Girl Groups der 1960-er und ganz am Schluss: „I Feel Love“, der Song, der die Zukunft verkörpern sollte und das dann auch tatsächlich tat wie kein zweiter.
Der Siegeszug des Synthesizers
Vor „I Feel Love“ wurde Disco-Musik noch händisch von Musikern und Musikerinnen eingespielt. Die Einflüsse aus Soul und Funk waren spürbar, und insgesamt haftete dem Genre eher ein tanzbarer Retro-Charme an. Dann entschloss sich Giorgio Moroder, der bekennende Workaholic, eine komplett elektronische Disco-Nummer zu produzieren. Die deutschen Elektro-Pioniere von Kraftwerk waren zu dieser Zeit zwar schon dabei, elektronische Instrumente salonfähig zu machen, doch tanzbare Pop-Songs schrieben die Düsseldorfer eher nicht - noch nicht.
Das sollten sie, wie so viele andere, erst tun, nachdem „I Feel Love“ eingeschlagen war wie eine Elektrobombe. International knackte die Single die Top 10, in manchen Ländern erklomm sie sogar die Spitze der Charts. Es war der wohl ungewöhnlichste Hit des vermeintlichen Punk-Jahres 1977. Während „I Feel Love“ die Charts dominierte, befanden sich David Bowie und Brian Eno gerade in Berlin, weil sie selbst auf der Suche nach dem Klang der Zukunft waren. Nachdem Eno die Single gehört hatte, eilte er mit einem Exemplar zu Bowie ins Studio. „Das ist es“, soll er gesagt haben, als er Bowie die Platte reichte. „Wir brauchen gar nicht, weiter zu suchen.“
Die Zukunft war da: in Form von Synthesizern, die sich durch ein präzises rhythmisches Uhrwerk schlängelten, über das Donna Summers Falsettgesang zu schweben schien wie eine Stimme aus einer anderen Welt, während sie Phrasen intonierte wie „It's so good“ und „I feel love“, aber nicht viel mehr. Von einem Songtext konnte man kaum sprechen: Hier ging es darum, die Musik zu spüren und sich in eine andere, bessere und freiere, Welt fallen zu lassen: „Fallin' free“, wie die Stimme aus der Zukunft ebenso verhieß. Vor allem die ohnehin schon Disco-affine schwule Community hörte in „I Feel Love“ eine Hymne der Befreiung, Donna Summer wurde zur Schwulen-Ikone. Entstanden ist dieses bahnbrechende Stück Popmusik übrigens in München, wo Moroder und Bellotte ihre Platten produzierten, ehe sie 1978 nach Los Angeles zogen.
Vom Disco-Paten zum Hollywood-Komponisten
Das Entwerfen von (Klang-)Welten war es auch, dem Moroder, der sich nie an Drogen-Exzessen beteiligen sollte, einen bedeutenden Teil seiner restlichen Karriere widmen sollte. Auch deswegen zog es ihn nach L.A.: Der Filmfan fing an, Soundtracks für Hollywood zu produzieren. Für Paul Schraders Film „Ein Mann für gewisse Stunden“ mit Richard Gere etwa oder für den Mafia-Klassiker „Scarface“ von Brian DePalma. Drei Oscars konnte Moroder gewinnen, den ersten gleich 1979 für seinen Score zu Alan Parkers Drama „12 Uhr nachts - Midnight Express“.
Elektronische Musik produzierte Moroder nach „I Feel Love“ hauptsächlich für Filme oder für seine Soloalben. Als er mit der New-Wave-Band Blondie einen Song für „American Gigolo“ aufnahm, handelte es sich dabei um eine Rocknummer - obwohl Blondie, von „I Feel Love“ beflügelt, selbst zum Synthesizer gegriffen hatten, um dann mit „Heart of Glass“ einen Hit zu langen. Lediglich für die Glam-Rock-Band Sparks produzierte er mit „No. 1 in Heaven“ auf deren Nachfrage eine komplett elektronische LP. Es war das erste Mal, dass eine bereits etablierte Rockband Gitarren verbannte und stattdessen zu Synthesizern griff.
Der Flopp eines besonderen Herzensprojekts hätte Moroders Karriere fast frühzeitig beendet: 1984 erschien eine neue Fassung von Fritz Langs Stummfilm-Epos „Metropolis“ (1927), das von Moroder passend zu seinem neuen Soundtrack bearbeitet worden war. Die Kritiken waren vernichtend. „Bis der Film fertig war, war die Musik schon ein bisschen altmodisch“, erinnerte er sich im teleschau-Interview. Die Kritik schmerzte. Moroders Arbeitspensum schrumpfte deutlich, in den 1990-ern und 2000-ern war er nahezu inaktiv. Auch die Lorbeeren für seine Pionierarbeit wollte der bescheidene Moroder nie so recht annehmen.
Comeback mithilfe von Daft Punk
Erst ab 2013 trat der Mann mit dem Schnauzbart, der den Urknall der elektronischen Musik mitzuverantworten hatte, wieder vermehrt in die Öffentlichkeit. Schuld daran war das französische Electro-Duo Daft Punk, das ohne Moroders Vorarbeit vermutlich nie existiert hätte. Auf deren Erfolgsalbum „Random Access Memories“ befand sich der Song „Giorgio By Moroder“, ein Instrumentalstück, auf dem Moroder zu der Musik des Duos erzählt, wie er damals, 1977, den „sound of the future“ erfand, wie er es mit seinem charmanten norditalienischen Akzent sagt. „Mein Name ist Giovanni Giorgio“, beendet er seine Erzählung. „Aber alle nennen mich Giorgio.“
Es folgte die Ehrenrunde des Giorgio Moroder. 2015 erschien mit „Déja Vu“ ein neues Album, auf dem erfolgreiche Pop-Sängerinnen wie Sia und Britney Spears seine Songs sangen. Anschließend ging er wieder auf Tour, legte erstmals auch in Clubs auf und blieb dafür ausnahmsweise länger wach als bis 22 Uhr. Um seine Musik dort am leben zu halten, brauchte es das jedoch nicht. Sie war nie verschwunden - und auch im Jahr 2025 gibt es wenige Songs, die von DJs aller elektronischen Spielarten so oft aufgegriffen werden wie „I Feel Love“. Die Zukunft, die der Song einst versprochen hatte, mag nie gekommen sein. Doch sie wird immer dann greifbar, wenn Donna Summers Stimme wieder über die Tanzfläche eines Clubs schwebt. (tsch)