Thilo Mischke hat sich für seine Reportage „ProSieben THEMA. Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht“ unter die neuen jungen Gläubigen gemischt.
Thilo Mischke unter jungen Christen„Das Level an Wundern ist noch mal krasser gewesen“
In seiner neuen Reportage „ProSieben THEMA. Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht“ (Montag, 28. Oktober, 20.15 Uhr, ProSieben) sieht man Thilo Mischke immer wieder gebannt, mitunter sogar mit Gänsehaut und Tränchen im Auge, in begeisterten Mengen mit jungen Leute stehen. Nein, es sind keine Popmessen von Taylor Swift oder anderen weltlichen „Gottheiten“ des Pop, die er besucht - es sind klassische Gottesdienste, auch wenn diese bei den Evangelikalen anders aussehen.
Mischke beginnt seine zweijährige Recherche über den Erfolg und die Beziehung zwischen radikalen Christen und der politischen Rechten in den Niederlanden. Auf einer Massenveranstaltung sprechen evangelikale Star-Prediger, viele kommen aus den USA, vor einer emotional entflammten jungen Crowd. Es geht um jene bessere Welt, wenn Gottes Reich erst mal errichtet ist. Ein Reich auf Erden ohne Abtreibung, Gender-Verirrungen und LGBTQ-Öffnung, ohne Sex vor der Ehe und selbstbestimmte Körper. Ohne Wokeness, aber dafür mit meist traditionellen Rollen, in denen sich die beiden Geschlechter - es gibt nur Mann und Frau - wohl und zu Hause fühlen.
Wie man sich denken kann, ist die ideologische Schnittmenge zwischen radikalen Christen und rechter politischer Gesinnung vorhanden. In den USA, wohin Mischke im zweiten Teil seiner Reportage reist, um beispielsweise die einflussreiche Bethel Church im nordkalifornischen Redding zu besuchen, ist diese Liaison lange etabliert: Christlicher Nationalismus ist die geeinte Front von Teilen der politischen Rechten, Verschwörungserzählern und Evangelikalen.
Bei der Kapitolstürmung vom 6. Januar 2021 konnte man viel christliche Symbolik und Rhetorik bestaunen. Mischke besucht in den USA das Ausbildungsinstitut der Bethel Church, eine Art Havard der Evangelikalen, wo pro Jahr etwa 1.300 neue Prediger ausgebildet werden. Mischke spricht mit Jackson Lahmeyer, einer der Galionsfiguren von „Pastors for Trump“, und er ist in Las Vegas auf der „ReAwaken America Tour“, einer großen Convention, wo zehntausende Gläubige sich von Predigern, Politikern und Prominenten in einer Mischung aus Religion, Nationalismus, dystopischen Untergangsszenarien und Errettung unterrichten lassen.
Die neue Kirche: autotune-Effekte, Lightshow und religiöser Rap
„Donald Trump is chosen by god“, hört man immer wieder aus Kreisen der locker über 25 Millionen starken evangelikalen Christen der USA. Nicht, weil er ein Gottesmann ist, daran glaubt niemand so recht, sondern gerade wegen seiner Sünden, lautet die gängige Argumentation der Prediger. Er ist wie wir: mit Schwächen unterwegs, aber auf Gott hoffend. Die Wahrheit ist: Trump hat die Bibeltreuen als starke Partner im politischen Strategiepapier stehen - und umgekehrt. „Wenn er im Amt ist, übernehmen sie die Welt“, formuliert es ein kritischer US-Journalist nur ein bisschen überspitzt. „Man entscheidet sich für einen Kandidaten, der am aggressivsten gegen all das vorgeht, was den christlichen Glauben im Sinne der Evangelikalen bedroht.“ Daraufhin sagt Mischke in die Kamera: „Das ist die beste Erklärung für das, was hier in den USA vorgeht.“
Es zielt jedoch zu kurz, diese unheilig-heilige Allianz als rein amerikanisches Phänomen zu betrachten. Evangelikale Kirchen mit vielen jungen Mitgliedern und erzkonservativen bis rechten Einstellungen sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Dafür besuchte Thilo Mischke mehrmals den australischen Prediger Ben Fitzgerald und seine „Awakening Europe“-Bewegung, die in Südwestdeutschland zu Hause ist. Die Gottesdienste enthalten Wunderheilungen, sie sind voll mit modern inszenierter Popmusik inklusive Autotune-Effekten und religiösem Rap. Menschen liegen auf der Bühne und schreien, wenn sie von ausgetriebenen Dämonen verlassen werden.
Die Gottesdienste werden ins Internet gestreamt, es gibt eine imposante Lightshow, alles hier ist auf junges Erleben getrimmt. Ebenso wie bei der „Night of Hope“ am Bodensee, wo sich junge Leute zum Singen, Heilen und spirituellen Miteinander wie zu einem großen Musikfestival treffen. Ein junger Mann sagt mit strahlenden Augen und übersprudelndem Rededuktus: „Das Level an Wundern ist noch mal krasser gewesen.“ Heilung und Erlösung auch von psychischen Leiden wie Depression, Verlorenheit und Überforderung gehören zum Kerngeschäft der neuen Evangelikalen.
„Liebe zur Bibel“ trifft „Ketzer der Neuzeit“
Natürlich hat die ganze Begeisterung auch eine Kehrseite. Thilo Mischke spricht mit Aussteigern in den USA und Deutschland, die unter Tränen berichten, wie sehr sie die Gemeinschaft früher aufgefangen hat. Und wie hart oft die Landung danach war. Sie berichten von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen, aber auch von der manipulativen Kraft der Kirchen.
Besonders interessant ist die Begegnung Mischkes mit der Christfluencerin Jasmin Neubauer aka „Liebe zur Bibel“ und dem „Ketzer der Neuzeit“, Leonard Jäger. Er hat bei YouTube knapp eine halbe Million Follower, und seine Botschaften sind ebenso flockig wie streng konservativ. Jäger ist wie Neubauer gegen Abtreibung und Gender-Wahnsinn, für klassisch ausgelegtes Christentum ohne LGBTQ-Öffnung - und sie haben sich in dieser Allianz gefunden.
Der Theologe Martin Fritz, Experte der evangelischen Kirche für „Strömungen des säkularen und religiösen Zeitgeistes“, erklärt Thilo Mischke am Anfang des Films bereits, warum die Massenveranstaltungen der Evangelikalen junge Menschen erreichen: „Die Leute suchen Gemeinschaft, Erfüllung. Da kann man am Wochenende zum Fußball gehen, auf Partys Konzerte oder eben zur Religion. Der Unterschied zwischen einer ganz normalen Disko und einer evangelikalen Veranstaltung ist aber die Erzählung - es geht wirklich um die allerletzten Fragen: das Jenseits und das Diesseits, was ist Gut und was ist Böse?“
Weil offenbar immer mehr junge Menschen nach Antworten auf diese Fragen suchen und sie diese in unserer Gesellschaft nicht finden, wächst die Bewegung weiter. Ein wichtiges Thema, das Thilo Mischke in eine packende Reportage verwandelt hat. Kommenden Montag, 4. November, läuft eine weitere mit dem Titel „ProSieben THEMA. Forrest Trump - Amerika vor der Schicksalswahl“. Es ist der Abend vor der US-Wahl. (tsch)