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Weniger Handel, mehr Flüchtlinge, mehr BürokratieBrexit-Doku zieht verheerende Bilanz

Lesezeit 4 Minuten
Viele Briten sind enttäuscht, wie wenig ihnen persönlich der Brexit gebracht hat. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Viele Briten sind enttäuscht, wie wenig ihnen persönlich der Brexit gebracht hat. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Fünf Jahre es ist her, dass in Brüssel die britische Flagge offiziell eingeholt wurde. Nach feiern ist zum Brexit-Jubiläum aber nur den wenigsten Briten zumute. Eine ARTE-Doku dokumentiert das ganze Schlamassel, das kurz vor der Bundestagswahl von besonderer Mahnkraft ist.

In London sieht man dieser Tage verstärkt Traktoren im Stadtbild. Es sind Bauernproteste, wie man sie auch hierzulande kennt. Auf Richtlinien aus Brüssel schimpfen die britischen Landwirte jedoch nicht mehr. Das war bis vor fünf Jahren noch anders. „Wenn etwas nicht klappte, wurde einfach behauptet, daran ist die EU schuld“, sagt in der am Mittwoch gesendeten ARTE-Dokumentation „Brexit Blues“ die Farmerin Liz Webster.

Trübe Stimmung: Eigentlich hatte die neue Regierung in London einen „Neustart“ versprochen. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Trübe Stimmung: Eigentlich hatte die neue Regierung in London einen „Neustart“ versprochen. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Die lästigen EU-Vorschriften sind die Briten los. Allerdings auch so etwas Nützliches wie europäische Fördermittel. Beeren-Farmer Tim Chambers hat 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, „weil ich dachte, ohne die EU kriegen wir das besser hin“. Heute bekommt er nicht mehr genügend Saisonkräfte aus Osteuropa und verbringt die meiste Arbeitszeit am Rechner: „Diese lästige Bürokratie frustriert immer mehr Kollegen.“ Drei Viertel der britischen Farmer geben an, der Brexit schade dem Geschäft. Viele, heißt es im Film, stehen kurz davor aufzugeben.

Britischer Historiker klagt: „Wir sind weg vom Fenster“

Großbritannien hat mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele ehemalige EU-Arbeitskräfte fehlen auf dem Markt. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Großbritannien hat mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele ehemalige EU-Arbeitskräfte fehlen auf dem Markt. (Bild: ARTE/Dennis Wienecke)

Weniger Handel, mehr Flüchtlinge, mehr Bürokratie. So liest sich die Bilanz zum Brexit-Jubiläum, das auf der Insel kaum einer für feierwürdig hält. Gerade mal elf Prozent der Briten sehen laut einer aktuellen Umfrage des Instituts YouGov den Brexit „eher als Erfolg“. Vielleicht muss man es als Zeichen deuten, dass der fünfte Jahrestag des EU-Autritts kurz vor die deutsche Bundestagswahl fällt. An Europa-skeptischen Positionen ist auf den Wahlzetteln ja kein Mangel.

Mit markigen Zitaten zum Hinterdieohrenschreiben geizt der Film von Sebastian Bellwinkel nicht. Besonders eindrücklich ist dieses: „Der Brexit war eindeutig der überflüssigste Akt nationaler Selbstverstümmelung in unserer Geschichte.“ Das sagt der Historiker Timothy Garton Ash. Für ihn persönlich sei die desolate wirtschaftliche Situation im Königreich nicht einmal das Schmerzlichste, „sondern der Verlust, gemeinsam agieren zu können. In einer dramatisch sich zuspitzenden Lage für Europa.“ In den Debatten im europäischen Ausland kämen die Briten kaum noch vor. „Wir sind weg vom Fenster.“

Boris Johnson hatte lange Stimmung gegen die EU gemacht. (Bild: 2024 Getty Images/Jemal Countess)

Boris Johnson hatte lange Stimmung gegen die EU gemacht. (Bild: 2024 Getty Images/Jemal Countess)

Und die Versprechungen, mit denen der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson und andere für den Brexit geworben hatten? Die hatten von Anfang an keine Substanz, wie im Film der Politikwissenschaftler Anand Menon erklärt: „Diese Handelsverträge, egal ob mit Indien, China oder den USA, hätten niemals die Verluste ausgleichen können, die der EU-Austritt zur Konsequenz hatte.“

Für Geflüchtete ist Großbritannien attraktiver denn je

In Schottland bedauert man den Abschied aus der EU besonders stark. (Bild: 2024 Getty Images/Jeff J Mitchell)

In Schottland bedauert man den Abschied aus der EU besonders stark. (Bild: 2024 Getty Images/Jeff J Mitchell)

Die wirtschaftliche Realität sieht heute düster aus: Der Güterhandel ist stark eingebrochen. Das Bruttosozialprodukt wird laut Experten in der nächsten Dekade um bis zu vier Prozent geringer ausfallen. Die soziale Schere klafft bei den Briten ganz besonders weit. Außer den Bauern demonstrieren auch Müllabfuhr, Krankenhausmitarbeiter und andere gegen untragbare Zustände. Und in der Hauptstadt London schlagen Obdachlose die Zelte auf.

Nicht einmal die Zahl der Geflüchteten ist wie versprochen zurückgegangen. Ganz im Gegenteil. Das als rechtswidrig und menschenverachtend kritisierte Abschiebeabkommen mit Ruanda ist gescheitert. Für Migranten (und ihre Schlepper) ist Großbritannien attraktiver denn je, weil Asylbewerber nicht mehr innerhalb Europas abgeschoben werden können.

Rund um viele britische Hafenstädte sorgen Staus durch Zollabfertigungen für Verkehrsprobleme. (Bild: 2023 Getty Images/Christopher Furlong)

Rund um viele britische Hafenstädte sorgen Staus durch Zollabfertigungen für Verkehrsprobleme. (Bild: 2023 Getty Images/Christopher Furlong)

Und nun? Soll der neue Premier Keir Starmer die Wirtschaft wieder in Gang setzen. Helfen soll dabei eine zarte Wiederannäherung an die EU. Der Labour-Politiker absolviert derzeit viele Auftritte auf dem Terrain, das seine Amtsvorgänger geräumt hatten. Starmers Botschaften sind dabei aber widersprüchlich. Die roten Linien des Brexit-Hardliners Johnson in Richtung Binnenmarkt sollen nicht überschritten werden. In Brüssel sagt die Parlamentarierin Nathalie Loiseau: „Es ist schwer zu erkennen, was die Briten wirklich wollen.“

Profitiert am Ende der Brexit-Erfinder Nigel Farage?

Rote Linien hat auch die EU. Zwar betont man, den Briten stünden die Türen zur Rückkehr prinzipiell offen. Das aber nicht unter allen Bedingungen. „Man müsste prüfen, ob es beiden Seiten etwas bringt“, betont Nathalie Loiseau. Sie glaube, „dass die Europäer weniger Geduld haben werden für all die britischen Sonderwünsche, die wir ja hinreichend kennen“. Bis auf Weiteres bleiben die Spielräume begrenzt: „Ich kann unseren europäischen Steuerzahlern nicht sagen, wir nehmen euch Geld aus der Tasche und bezahlen damit Beschäftigte außerhalb der EU oder außereuropäische Patente. Das versteht doch keiner.“

Dabei - so eine zentrale These des Films - fehlen die Briten der EU an allen Ecken und Enden. Deutsche und Franzosen liegen in allzu vielen Interessen über Kreuz, China bedroht die Märkte, Putin die äußere Sicherheit, und unter Trump könnten sich die USA sowohl aus der Nato als auch aus dem Kreis der Ukraine-Unterstützer zurückziehen.

Dass die Europäische Union unter diesen Vorzeichen in ernster Gefahr ist, hat auch die Politikwissenschaftlerin Cathryn Clüver Ashbrook erkannt: „Überall drängen sich die populistischen Parteien auf und sie gebrauchen das gleiche Playbook, das wir damals beim Brexit-Referendum gesehen haben. Wenn wir daraus nicht lernen, haben wir aus unserer eigenen europäischen Geschichte wenig mitgenommen.“

Unklar ist, welche Lehren die Briten selbst aus den Folgen ihres Schicksalsreferendums ziehen. Was geschieht, wenn die pro-europäische Labour-Regierung den versprochenen Aufschwung nicht liefert? Kommt dann der Brexit-Erfinder Nigel Farage an die Macht? Auch wenn Experten es einstweilen für unwahrscheinlich halten: Es wäre eine Pointe, so absurd, dass sie fast schon wieder logisch klingt. (tsch)