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Schmelzende PoleDie Gefahr aus dem Eis

Lesezeit 4 Minuten
Illustration: Eis und Meer in der Arktis

Das Klima in der Arktis erwärmt sich rasant, das Eis schmilzt.

Die Temperatur steigt, das Eis an den Polen schmilzt: Die Folgen des Klimawandels sind nicht nur eine Steigerung des Meeresspiegels. Beim Schmelzvorgang können auch Krankheitserreger freigesetzt werden. Eine neue Analyse zeigt, wie gefährlich diese wirklich sind.

Das Klima weltweit wird wärmer. Allerdings findet diese Erwärmung nicht überall gleichmäßig statt. In kälteren Regionen wie der Arktis erwärmt sich das Klima sogar bis zu viermal schneller. Die Folge ist, dass das Eis schmilzt. Durch diesen Prozess steigt aber nicht nur der Meeresspiegel: Schätzungen gehen davon aus, dass durch die Eisschmelze auch vier Sextillionen (in Zahlen: 4.000.000.000.000.000.000.000) Mikroorganismen pro Jahr freigesetzt werden.

Bisher hatte man eine vage Vorstellung, dass dies ein Risiko für die heutigen Ökosysteme und vor allem die Menschheit darstellen könnte. Doch angesichts der unvorstellbar großen Zahl an Mikroorganismen, die aus schmelzendem Eis freigesetzt werden, sei es „bisher schwierig“ gewesen, das Risiko abzuschätzen, das dies für moderne Ökosysteme darstellen könnte, hieß es vor Kurzem im Fachjournal „The Conversation“. Bekannt ist jedoch bereits, dass unter den Mikroorganismen auch Krankheitserreger sind, die möglicherweise Tiere wie auch Menschen infizieren könnten.

750.000 Jahre alte Bakterien wiederbelebt

Dies zeigen erste Fälle aus der jüngeren Vergangenheit. In diesem Jahr wurden Bakterien aus Proben wiederbelebt, die vom Boden eines Eiskerns entnommen wurden, der in der Qinghai-Tibet-Hochebene gebohrt worden war. Das Eis in dieser Tiefe war mehr als 750.000 Jahre alt.

Wie gut manche Lebewesen im Eis überleben, zeigten jüngst auch Untersuchungen zu Fadenwürmern. Diese können 46?000 Jahre im Permafrost überdauern und sich danach wieder vermehren. Wie sie in der Kälte überleben, hat ein Team um Teymuras Kurzchalia vom Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden herausgefunden. Die Würmer produzieren einen speziellen Zucker und bilden eine Dauerlarve, wie das Team in der Fachzeitschrift „Plos Genetics“ schreibt. Es entdeckte zudem, dass die Fadenwürmer, die im dauerhaft gefrorenen Boden Sibiriens gefunden worden waren, einer bisher unbekannten Art angehören.

Die Würmer reagieren auf eine leichte Austrocknung mit dem Auflösen ihrer Fettreserven und der Produktion des Zuckers Trehalose, erklären die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. In diesem Zustand können sie eine starke Austrocknung und ein anschließendes Einfrieren unbeschadet überstehen.

Ebenfalls aus sibirischem Permafrost – und zwar aus 30?000 Jahre altem – wurde 2014 der Erreger Pithovirus sibericum wiederbelebt. Und 2016 kam es in Westsibirien zu einem Ausbruch von Milzbrand, einer durch das Bakterium Bacillus anthracis verursachten Krankheit, die auf das schnelle Auftauen von Bacillus-anthracis-Sporen im Permafrost zurückgeführt wurde. Die Krankheit tötete Tausende von Rentieren und ließ Dutzende Menschen erkranken.

Großes Risiko durch freigesetzte Erreger

In einer neuen Studie, die in der Fachzeitschrift „PLOS Computational Biology“ veröffentlicht wurde, ist es der Wissenschaft nun gelungen, die ökologischen Risiken zu berechnen, die durch die Freisetzung alter Viren entstehen. Die Simulationen der Forschenden zeigen, dass ein Prozent der simulierten Freisetzungen von nur einem ruhenden Krankheitserreger weltweit großen Schaden anrichten könnte.

Bei ihrer Analyse arbeiteten die Forscherinnen und Forscher mit einer Software namens Avida, eine von der US-amerikanischen Michigan State University entwickelte Softwareplattform für künstliches Leben. Auf diese Weise führte die internationale Forschergruppe Experimente durch, die die Freisetzung alter Krankheitserreger in moderne biologische Gemeinschaften simulierten.

Insgesamt fanden die Experten heraus, dass eindringende Krankheitserreger häufig überleben, sich weiterentwickeln und in einigen Fällen außergewöhnlich hartnäckig und dominant in der Gemeinschaft werden. Letzteres könnte in der Folge zu erheblichen Verlusten oder zu Veränderungen in der Anzahl der lebenden Tierarten führen, wie der Ökologe Giovanni Strona von der University of Helsinki sagte, der die Studie leitete. „Unsere Ergebnisse deuten daher darauf hin, dass unvorhersehbare Bedrohungen, die bisher auf Science-Fiction und Vermutungen beschränkt waren, tatsächlich starke Triebkräfte für ökologische Veränderungen sein könnten“, folgern die Studienautoren und -autorinnen.

Ausbrüche können „ernsthafte Gefahr“ darstellen

In etwa 3 Prozent der Fälle wurde der Erreger in der neuen Umgebung dominant. Etwa ein Prozent dieser Eindringlinge führte zu unvorhersehbaren Ergebnissen wie zum Beispiel dem Aussterben von bis zu einem Drittel der Wirte, also der Tierarten, die die Krankheitserreger in sich trugen. Die Risiken, die von diesem einen Prozent der freigesetzten Krankheitserreger ausgehen, mögen auf den ersten Blick gering erscheinen. Doch die Forschenden verwiesen auf die schiere Anzahl alter Mikroben, die regelmäßig in moderne Gemeinschaften freigesetzt werden könnte. Dies habe zur Folge, dass Ausbrüche durchaus „eine ernsthafte Gefahr darstellen“ könnten, erklären sie.

Beispielsweise ist es laut den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen plausibel, dass ein einst im Eis gebundenes Virus über zoonotische Wege in die menschliche Bevölkerung gelangen könnte. Denn auch Viren wie Sars-CoV-2, Ebola und HIV wurden wahrscheinlich durch Kontakt mit anderen tierischen Wirten auf den Menschen übertragen. Auf diese Weise könnten die Viren zu einer „unvorhersehbaren Bedrohung“ werden.

„Als Gesellschaft müssen wir das potenzielle Risiko verstehen, das von diesen alten Mikroben ausgeht“, sagte Corey Bradshaw von der Flinders University in Adelaide, der ebenfalls an der Studie mitgearbeitet hat. Nur so könnte sich die Menschheit auf „die unbeabsichtigten Folgen ihrer Freisetzung in die moderne Welt vorbereiten“. Die Ergebnisse würden zeigen, „dass das Risiko nicht länger nur eine Fantasie ist, gegen die wir uns nicht wehren sollten“.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.