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Skid Row in Los AngelesAuf Streife in Amerikas größtem Elendsviertel

Lesezeit 9 Minuten

Downtown Los Angeles in Sichtweite: Nachts bauen die Obdachlosen in Skid Row ihre provisorischen Behausungen auf.

Los Angeles – Der Abstieg in den Höllenkeller des Großstadtlebens dauert nicht lange. Vielleicht fünf Minuten zu Fuß. Sanft fällt der Gehweg von der Ecke Broadway/6. Straße ab. Dort sitzen ein paar junge Leute, die aussehen wie Yuppies, und Gourmet-Kaffee trinken , für fünf Dollar. Dann geht es weiter, es kommen noch die Kreuzungen mit der Spring Street und der Main Street. Und schon ist der Höllenkeller des Großstadtlebens erreicht.

251 East 6th Street, die Adresse der Polizeistation von Skid Row. Es ist eine Festung aus gräulichem Beton, zur Straße hin fensterlos. Auf den Stufen vor der Burg sitzt ein alter Mann, der keine Zähne mehr hat. Er murmelt Unverständliches vor sich hin. Ein Transvestit mit Perücke auf dem Kopf tänzelt vorbei und singt mit sich überschlagender Stimme: „Juuuunge, Du bist ein Casanova. Juuunge, Du bist ein Casanova.“

Im ersten Stock der Polizeiwache setzt sich Deon Joseph auf einen Drehstuhl und lächelt nachsichtig, als er die ersten Eindrücke seiner Besucher kommentiert. „Warten Sie mal ab, Sie haben noch nichts gesehen“, sagt der Sheriff von Skid Row, ein muskelbepackter Afro-Amerikaner, dessen blaues Uniformhemd über der Brust spannt, als sei es mindestens zwei Nummern zu klein: „Das hier ist wie ein Konzentrationslager ohne Zaun.“

Skid Row grenzt unmittelbar an die Innenstadt von Los Angeles. Etwa 13 000 Menschen, 85 Prozent von ihnen Afro-Amerikaner, leben auf engem Raum in einem herunter gekommenen Geviert von wenigen Häuserblocks. Was im späten 19. Jahrhundert als Wohnort für Saisonarbeiter entstand, ist heute Amerikas größtes Ghetto für Obdachlose, Drogenabhängige, Kriminelle und Alkoholiker. Weil in Skid Row schon immer die Unterprivilegierten und Elenden lebten, wurden dort auch über die Jahre soziale Dienste wie Drogenberatungen, Obdachlosenhilfen und Suppenküchen angesiedelt.

Das wiederum machte die Gegend erst recht attraktiv für neue Bewohner. Es ist ein Teufelskreis aus Armut, Kriminalität und Krankheit. Deon Joseph, der Polizist, sagt jetzt: „Ich schätze, dass 50 bis 60 Prozent der Menschen hier psychisch krank sind.“ Heroin, Kokain, Crack, Chrystal Meth – keine Droge, die in Skid Row nicht auf offener Straße verkauft, gespritzt, geraucht oder geschnupft wird. Dazu kommen Alkoholverkäufer, die den Schnaps oft ausgerechnet vor jenen Haustüren verkaufen, hinter denen sich die Anonymen Alkoholiker treffen.

Dann noch der Dreck und Müll auf den Straßen, die nur ein paar Mal im Jahr gefegt werden: zerfetzte Zelte, zertretene Spritzen, Schlafsäcke, die kaum mehr wie Schlafsäcke aussehen; Einkaufswagen, die vollgepackt sind mit den Habseligkeiten der Obdachlosen. In der Luft liegt ein Geruch nach Exkrementen und Erbrochenem.

Mitten drin steht Deon Joseph, seit 17 Jahren. Er ist 42 Jahre alt und möchte nie mehr weggehen, wie er sagt: „Ich könnte in Beverly Hills berühmte Leute verhaften, aber ich will das nicht.“ Zwischen den glamourösen Vierteln von Los Angeles und seinem Höllenkeller liegen nur wenige Kilometer. Doch für die Menschen in Skid Row ist Hollywood ähnlich weit weg wie der Mond . Die Geschichte vom guten Polizisten, der sich um die Ärmsten der Armen kümmert, klingt wie eine Werbeschrift des Los Angeles Police Department. Und natürlich gefällt sich Deon Joseph auch ein bisschen in der Rolle des guten Menschen von Skid Row. Doch alleine seine lange Dienstzeit an diesem Ort spricht dafür, dass er es ernst meint.

Als Deon Joseph vor 17 Jahren zum ersten Mal nach Skid Row fuhr und ein paar Kilometer vorher die Ausfahrt von der Stadtautobahn nahm, sah er auf den Gehsteigen Leute in Schlips und Kragen. „Ich dachte mir, das wird schon nicht so schlimm werden“. Aber dann überquerte er die Spring Street, und es wurde schlimm. „Es war, als hätte ich mich verfahren und wäre direkt in Dantes Inferno gelandet“, sagt der Vater dreier Söhne, deren Fotos er über seinen Schreibtisch an die Wand gepinnt hat. „Ich war nicht darauf vorbereitet.“

Einen Straßenzug weiter wurde es noch schlimmer. „Als ich in die Nähe der Polizeistation kam, sah ich halbnackte Frauen, die auf dem Bürgersteig urinierten. Ich sah Männer, die das machten. Ich sah Leute, die auf offener Straße Crack rauchten. Ich sah einen Streifenwagen, und einen Meter davon entfernt spritzte sich jemand Heroin. Und ich dachte mir nur: Ich muss hier weg.“

Er ist geblieben. Jeden Morgen schnallt er sich einen Elektroschocker an den Oberschenkel und seine Pistole an den anderen. Joseph geht auf Streife durch Skid Row, im Mund hat er einen Lutscher. Joseph geht mit den Obdachlosen und Süchtigen von Skid Row um wie mit Verwandten. Sie duzen ihn, er duzt sie, manchmal sagt er aber auch „Sir“ und „Ma’am“. „Diese Menschen haben dasselbe Recht, mit Würde und Respekt behandelt zu werden wie alle anderen“, sagt Joseph. Dass er Oberarme hat wie ein Gewichtheber, das hilft natürlich. Es schüchtert die Jungen ein und beeindruckt die Alten.

Der Polizist ist eine Mischung aus Gesetzeshüter, Nachrichtensprecher, Sozialarbeiter und Arbeitsvermittler. Auf den Zetteln, die er bei seinen Rundgängen durch Skid Row verteilt, stehen die Adressen von drei Dutzend Unternehmen, die Gelegenheitsjobs anbieten. „Hey, Baby,“ sagt Deon zu der ausgemergelten Frau: „Vielleicht ist ja was für Dich dabei.“ „Klar“, sagt die Frau, „mach’ ich, Süßer“. Auf seiner Streife passiert Deon Joseph einen jungen Mann, der in einem Rollstuhl auf dem Gehsteig sitzt. „Ist das Dein Zelt?“, fragt der Polizist. „Yo!“ Joseph sagt mit ganz leiser Stimme: „Das muss weg, keine aufgebauten Zelte vor neun Uhr abends!“ Das soll verhindern, dass sich die Drogensüchtigen tagsüber ins Zelt schleichen und eine Spritze setzen. Der Mann springt auf, schubst den Rollstuhl zur Seite und fängt an, Stangen aus dem Zelt zu ziehen.

Geschäft mit der Armut

Skid Row ist nicht nur Sammelplatz der Elenden. Es ist auch der Ort, an dem sich jene versammeln, die an den Elenden verdienen. Als vor ein paar Jahren mobile Klohäuschen aufgestellt wurden, damit die Leute nicht mehr auf die Straße pinkeln, zeigte sich schnell der Geschäftssinn der Banden. „Für die normale Benutzung der Toiletten haben sie den Leuten hier fünf Dollar abgeknöpft“, erzählt Joseph. „Wer sich Drogen spritzen wollte, durfte umsonst hinein.“

Wer sich gegen solche Methoden zur Wehr setzt, dem ergeht es schlecht. Deon Joseph zieht sein Handy aus der Brusttasche und zeigt ein Video, das er am Tag zuvor aufgenommen hat. Darauf ist ein Mann zu sehen, der wahrscheinlich mit einem Metallrohr geschlagen wurde. Sein Kopf ist blutüberströmt. Joseph sagt, er wisse nicht, ob der Mann überleben werde. Jedes Jahr sterben etwa 100 Menschen in Skid Row, viele an einer Überdosis, andere werden Opfer von Verbrechen.

Die Chancen, die Täter zu fassen, sind gering. Die Opfer haben Angst auszusagen, die Kriminellen sind auch deswegen gut geschützt. Hinzu kommt eine allgemeine Skepsis gegenüber der Polizei, die auch Deon Joseph spürt. „Manche glauben hier immer noch, ich sei ein gehirngewaschener Roboter, der Verrat an den Schwarzen begeht.“ Dabei ist Joseph so etwas wie das Gegenmodell zu den schießwütigen Cops aus Ferguson oder Cleveland. Deon Joseph ist erstens Schwarzer, und zweitens läuft er Streife, wann immer er kann. Seinen Wagen lässt er lieber stehen. „Ich muss in Kontakt mit den Leuten kommen, sonst kann ich nicht helfen“, sagt er. In den letzten 17 Jahren hat er unzählige Male seine Waffe gezogen. Geschossen hat er noch nie.

Das Problem an Deon Joseph und seinen Kollegen ist: In den Augen der Dealer stören sie den Geschäftsbetrieb. Weil mit den Süchtigen so viel Geld zu machen ist, haben sogar die Mitglieder verfeindeter Banden einen Waffenstillstand für Skid Row geschlossen. „Letztens haben ein Blood und eine Crip geheiratet“, sagt Joseph. Andernorts in Los Angeles wäre so etwas nicht vorstellbar. Die Bloods und die Crips, zwei der größten afro-amerikanischen Gangster-Banden in L.A. , hassen sich bis aufs Blut. Aber die Aussicht auf schnelles Geld verändert traditionelle Verhaltensmuster.

Der San-Julian-Park ist ein Treffpunkt im Viertel. Unter Bäumen sitzen Süchtige und Dealer auf Bänken scheinbar friedlich nebeneinander. Ein kleiner Junge spielt im Sandkasten. Als Deon Joseph den Park betritt, ist leises Zischen zu hören. „Die Dealer warnen sich gegenseitig, dass ich jetzt komme“, sagt der Polizist, klopft einem alten Mann auf die Schulter und umarmt eine Frau. Am anderen Ende des kleinen Stadtparks holt der Polizist tief Luft. Er soll jetzt erklären, warum er die Kriminellen nicht einfach verhaftet. „Wenn es so einfach wäre“, sagt er: „Ich könnte hier jeden Tag Leute verhaften, die kiloweise Drogen bei sich haben. Aber was bringt es? Nach einer Nacht im Knast wären die wieder in Freiheit.“

Das könnte sich noch verschlimmern. Die kalifornischen Wählerinnen und Wähler haben vor einigen Monaten in einer Volksabstimmung entschieden, dass Drogenvergehen nicht mehr zwangsläufig als Verbrechen gewertet werden müssen, sondern in vielen Fällen nur noch als Ordnungswidrigkeiten. Das dürfte die überfüllten Gefängnisse des bevölkerungsreichsten US-Bundesstaates leeren, aber Polizisten wie Deon Joseph die Arbeit erschweren. „Die Gesetze sind einfach zu schwach“, seufzt der Sheriff von Skid Row: „Unsere einzige Waffe ist es, auf den Straßen sichtbar zu sein.“

Deon Joseph hört oft die Klage, dass das aber ein ziemlich stumpfes Schwert sei. „Hey, sage ich dann, dann verändert doch was“, schimpft der Polizist. Aber es sei den Politikern ja offenbar nicht beizubringen, dass es besser wäre, mehr Beratungsstellen im ganzen Stadtgebiet anzubieten und vor allem mehr bezahlbare Wohnungen. Die Konzentration der Elenden auf ein kleines Stadtviertel wie Skid Row sei doch das Problem, sagt Deon Joseph.

Jetzt trägt er eine Klage vor, wie er das auch vor Richtern und Abgeordneten aus Los Angeles schon manches Mal getan hat. Bislang ohne Erfolg. Wer politisch rechts eingestellt sei und in einem anderen Viertel der Stadt lebe, sagt Joseph, der wolle keine Obdachlosen, Süchtigen und psychisch Kranken im eigenen Hinterhof sehen. Der schiebe alle Probleme in die Innenstadt von Los Angeles ab, komme einmal im Monat mit einem Lastwagen voller Kleidung und Lebensmittel nach Skid Row und fühle sich auch noch gut dabei. Und wer auf der linken Seite des politischen Spektrums stehe, wolle, dass die Polizei die Finger ganz von den Unterprivilegierten von Skid Row lasse. „Für die sind wir das Problem“, sagt Joseph. Der unpolitischen Mehrheit der Einwohner aus dem zweitgrößten Ballungsraum der USA dürfte Skid Row egal sein. Man kann, sagen die Polizisten, jahrelang in Los Angeles leben, ohne ein einziges Mal Skid Row zu betreten.