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30 Jahre MauerfallEin Land wird wachgeküsst

Lesezeit 8 Minuten
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Überschwängliche Begrüßung: Eine Frau umarmt den NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau in Leipzig.

  1. Am 9. November 1989 war unser DDR-Korrespondent Harald Biskup mit NRW-Ministerpräsident Johannes Rau in Leipzig.
  2. Dort erlebte eine denkwürdige Nacht und den rasanten Wandel der Verhältnisse live mit.
  3. Fotograf Ulrich Paul hat „Nacht der Nächte“ in eindrucksvollen BIldern festegehalten.

Manche meiner Kollegen nannten es damals Reporter-Pech, dass ich ausgerechnet in der Nacht der Nächte vom 9. auf den 10. November 1989 nicht in Berlin war, als sich dort ein Stück Weltgeschichte ereignete. Stattdessen saß ich mit Johannes Rau, der an diesem denkwürdigen Tag in Leipzig als NRW-Ministerpräsident eine Ausstellung mit dem sinnigen Titel „Zeitzeichen“ eröffnete, im dortigen Opernhaus. Die „Capella Coloniensis“ glänzte wie daheim mit Barockmusik, Rau referierte über regionale Besonderheiten der Kulturpolitik an Rhein und Ruhr. Mitten in der Rede wird ihm ein Zettel gereicht. Er hat solche Situationen oft erlebt, dass jemand auf irgendeinen Fetzen Papier zum Beispiel „Bürgermeister noch begrüßen“ gekritzelt hat oder „Bitte Satz stark betonen, da Argument schwach“. Diesmal aber ist die Botschaft so unglaublich, dass der Routinier Rau sichtlich Mühe hat, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen: „Die Mauer ist auf!“

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Die Mauer ist zwar noch da, aber auch schon weg. Unglaublich. Menschen sitzen gemütlich auf ihr. Noch unglaublicher.

„Ich wusste nicht, was ich machen sollte“, bekannte er später. „Ich wusste nicht, was das hieß, ich wusste nicht: Soll ich die Rede zu Ende halten, soll ich sie kürzen, soll ich das vorlesen?“ Rau entscheidet sich spontan, einige Absätze zu überspringen und schneller als geplant zum Schluss zu kommen. Applaus. Dann verlässt er schnellen Schrittes möglichst unauffällig durch einen Seitengang den Zuschauerraum.

Zur Person: Unser Autor

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Biskups Akkreditierung für die Volkskammer

Harald Biskup (Jahrgang 1951), berichtete seit 1983 als „Reisekorrespondent“ mit Mehrfach-Visum für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus der DDR. Aufenthalte in Leipzig nutzte er zu Reportagen. Manche Texte erschienen unter wechselnden Pseudonymen, um Gesprächspartner zu schützen. Die „Ständige Vertretung“ der DDR wertete auch den „Stadt-Anzeiger“ aus. Die Wende erlebte er als Korrespondent. Anfang 1990 erhielt er die ständige Akkreditierung durch das Ost-Berliner Außenministerium.

Im Foyer umarmen ihn wildfremde Menschen, einige weinen angesichts der Wucht der Ereignisse. Was bedeutet das, und wie geht es weiter? Zehn Jahre später, 1999, wird er als Bundespräsident die Szene in seiner Ansprache zum Jahrestag des Mauerfalls schildern.

Niemand ahnte, dass sich Krenz nur sechs Wochen würde halten können

Dieser Augenblick, als Rau hinausgeht und nicht zurückkehrt, ist mir so präsent wie vor 30 Jahren. Ich wusste, dass es um diese Ausstellung ein jahrelanges deutsch-deutsches Hickhack gegeben hatte. Dass Honecker persönlich sie angesichts der unruhigen Lage im Lande abgesagt und dass sein Nachfolger Egon Krenz die Ausladung als eine seiner ersten Amtshandlungen rückgängig gemacht hatte. Auf dem Weg nach Leipzig hat Rau an diesem 9. November kurz in Ost-Berlin Station gemacht und den neuen ersten Mann getroffen. Niemand kann ahnen, auch Rau nicht, als er am frühen Abend in Leipzig eintrifft, dass Krenz sich nur sechs Wochen an der Spitze der taumelnden DDR halten kann.

Wenn also Rau in dieser brisanten Situation die Eröffnungsveranstaltung vorzeitig verlässt, denke ich mir, muss etwas ungeheuer Wichtiges passiert sein.

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„Das trifft, nach meiner Kenntnis ...  ist das sofort, unverzüglich“, stammelt Politbüro-Mitglied Günter Schabowski  am 9. November 1989.

Es dauert noch ein paar Stunden, bis ich erfahre, dass Politbüromitglied Günter Schabowski bei seiner legendären Pressekonferenz in Ost-Berlin (an der ich ohne den Rau-Einsatz vermutlich teilgenommen hätte) eine Welt-Sensation verkündet hat. Ohne Handy und Twitter hatten es selbst Top-Nachrichten schwer, sich schnell zu verbreiten. Nur zwölf Prozent der Ostdeutschen besaßen damals einen privaten Telefonanschluss.

Die „Heldenstadt“ Leipzig verschläft den Mauerfall

Der normale Werktätige muss früh aus den Federn und sitzt deswegen auch an diesem Abend nicht mehr vor dem Fernseher, als die DDR-Spätnachrichten das schier Unvorstellbare melden. Leipzig, die später wegen ihrer mutigen Montagsdemonstrationen als „Heldenstadt“ gefeierte sächsische Metropole, verschläft den Mauerfall in dieser milden Novembernacht buchstäblich.

Ich bin in dieser Hinsicht besser dran, weil ich mich spätabends noch vom munteren Treiben in und vor allem vor der „Moritz-Bastei“ anlocken lasse. Der Studentenklub wird vom Staatsjugendverband FDJ betrieben, aber die Blauhemden als quasi Uniform haben längst ausgedient. Nach den Montagsdemos sind die alten Gewölbe mitten in der City seit Anfang Oktober Treffpunkt der jungen Aufmüpfigen.

Zur Person: Unser Fotograf

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 Fotograf Ulrich Paul

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 war eine historische. Die Augenblicke des Glücks, der Furcht, aber auch Kurioses hat der Fotograf Ulrich Paul in teils sehr persönlichen Bildern festgehalten. Zum 30. Jahrestag erschien nun das Buch „Der Mauerfall – Berlin vom 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung“. Es ist bei tredition erschienen. Weil wir die Ereignisse auch bildlich noch einmal in Erinnerung rufen wollten, haben wir diese Sonderausgabe mit vielen von Pauls Aufnahmen illustrieret. Paul wurde 1962 in Berlin geboren, studierte an der FU. Von 1988 bis 1990 war er für das Volksblatt Berlin tätig, seit 1991 arbeitet er als Redakteur bei der Berliner Zeitung.

Die Wahnsinnsnachricht aus Berlin ist hier schon angekommen, und es ertönen bislang im Radio verbotene Songs der auch im Westen bekannten Leipziger Rockband Klaus Renft Combo. Und dazwischen wie in einer Endlosschleife „We Shall Overcome“. Ich habe besonders die Version mit Joan Baez noch im Ohr. Eine Slawistik-Studentin dreht das alte Protestlied irgendwann ab. „Wir haben es doch geschafft: Es gibt kein Zurück mehr.“ Das Bier fließt in Strömen, die Stimmung ist ausgelassen. Ein Grüppchen grölt „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, und immer wieder wird ein Slogan aus der letzten Montags-Demo skandiert: „Visafrei bis nach Hawaii.“ Es gibt ihn auch in der Variante „Visafrei bis nach Schanghai“.

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Die Berliner Straße des 17. Juni am Tag danach: Automassen schlängeln sich durch den Westteil der am Vortag noch  geteilten  Stadt.

Natürlich hätte ich an diesem Abend die Trabi-Schlangen am Berliner Übergang Bornholmer Straße und die sich nach 28 Jahren Trennung in den Armen liegenden Menschen gern erlebt. Die plötzliche Machtlosigkeit der Grenzposten und die ansteckende Furchtlosigkeit der in die bislang unerreichbare andere Stadthälfte strömenden Ost-Berliner. Aber als ich am nächsten Morgen Zeuge irrwitziger Szenen in Leipzig werde, wo sich schon vier Wochen zuvor der friedliche Verlauf der „Wende“ entschieden hat, empfinde ich Reporter-Glück. Unvergessliche Erlebnisse auch hier.

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Nach der Grenzöffnung stehen am 10. November 1989 ab kurz vor 8 Uhr Bürger der DDR vor der Pass- und Meldestelle der Volkspolizei in Eilenburg (Bezirk Leipzig) um ein Visum zu erhalten.

Freitag, 10. November vormittags, Leipzig-Connewitz. Nichts ist mehr, wie es gestern noch war. Meine ersten unangemeldeten (und damit eigentlich unerlaubten) Passanten-Interviews finden ausgerechnet vor einem Revier der Volkspolizei statt. Die verunsicherte Staatsmacht schaut weg. Glatte Anarchie! Vor 24 Stunden noch unvorstellbar. Vor dem Gebäude stehen die Leute Schlange. Ein vertrautes Bild, aber normalerweise vor privaten Metzgereien oder Delikat-Läden. Man wartet geordnet aufs (eigentlich gar nicht mehr erforderliche) Visum zur Ausreise in die BRD. Einmal kurz in den Westen und zurück. „Du weißt ja nie“, sagt eine wartende Verkäuferin, „ob es den Stempel morgen auch noch gibt.“ Ein Busfahrer nickt zustimmend: „Das ist, wie wenn plötzlich mal eine Ladung Jeans aus dem Westen kommt. Nischt wie ran.“

„Zur Frühschicht bin ich wieder da!“

Die Antworten sprudeln nur so. Die Angst, dass freizügige Auskünfte schaden könnten, scheint verflogen zu sein. „Nu klar komme ich zurück“, sagt in breitem Sächsisch ein Monteur vom Aufzug-Kombinat Takraf. „Am Montag zur Frühschicht bin ich wieder da.“ Er will nur eben eine Tante in Hannover treffen und das Begrüßungsgeld abholen. Und vielleicht nach einer Bohrmaschine schauen oder nach einem Kassettenrekorder, „wenn die 100 Mark reichen“.

Während ich miterlebe, wie die Leipziger ungläubig staunend begreifen, dass gerade eine historische Zeitenwende stattfindet und sie die ersten Früchte ihrer friedlichen Revolution ernten können, kann ich meine Leipziger Freunde weder telefonisch noch persönlich erreichen. Sie wissen nicht, dass ich in der Stadt bin. Maria, Arnold und zwei Begleiter haben sich frühmorgens spontan in den Zug nach Köln gesetzt und stehen – natürlich unangemeldet – vor unserer Tür. Oft hatten wir uns bei Leipzig-Besuchen ausgemalt, wie toll es wäre, eines Tages zusammen durch die Schildergasse zu bummeln und später ein paar Kölsch zu trinken. Eine schöne, verrückte Illusion. Und jetzt sind sie plötzlich da, einfach so – Wahnsinn! Sie leihen sich unseren Ford Fiesta zu einer Spritztour aus, Ziel offen. Es ist eng zu viert, aber immerhin besser gefedert als ihr Wartburg. Als sie spätabends zurück sind, berichten sie begeistert, dass sie, was gestern noch völlig absurd erschienen wäre, ihre neue Freiheit zu einem Kurztrip nach Amsterdam genutzt haben. Als DDR-Bürger hätten sie für die Niederlande eigentlich ein Visum gebraucht. Verkehrte Welt.

Tags zuvor bei meiner Einreise in die DDR bei Coburg: Ich bin im Besitz einer zeitweiligen Akkreditierung als Korrespondent, später wird noch eine „Grenzempfehlung“ hinzukommen. Damit ist man als Journalist fein raus, weil man die eigentlich Fahrzeugen der Alliierten vorbehaltene „Military“-Spur benutzen darf. Der Zoll kontrolliert bis in den Sommer 1990 weiter, als hätte es nie einen Mauerfall gegeben.

Jetzt liegt auf meinem Beifahrersitz der aktuelle „Spiegel“ mit der Titelgeschichte über die ostdeutsche Oktober-Revolution. Das sei wohl „Reiselektüre“, meint die Genossin Oberleutnant überraschend mild. Weibliche Grenztruppen-Kontrolleure sind eigentlich besonders gefürchtet. Meine Leipziger Freunde bestaunen das Magazin später wie eine bibliophile Kostbarkeit. Bis vor kurzem wurde praktisch alles Gedruckte an der Grenze konfisziert. Selbst eingeschmuggelte Neckermann-Kataloge galten als subversiv.

Leipzig wirkt wie wachgeküsst

Es ist sicher Zufall, dass in den Leipziger Kinos in den Tagen um den 9. November der Film „Coming Out“ angelaufen ist. Er erzählt, wie sich ein junger Lehrer nach langen inneren Kämpfen zu seinem Schwulsein bekennt. „Genau betrachtet“, schreibt die „Leipziger Volkszeitung“, sei der Film „eine Äußerung zu diesen so bewegten Zeitläuften“. In der Tat: Die Stadt der Montags-Demos erlebt so etwas wie ihr eigenes Coming-out: Die Menschen werden sich ihrer Rolle und ihrer Rechte bewusst und klagen sie furchtlos und selbstbewusst ein. Ganz Leipzig wirkt am „Tag danach“ wie wachgeküsst. Die Stadt gleicht einem großen Debattierklub. Ein Mann, der erzählt, er sei Ingenieur im Kombinat Geophysik, klebt ein neues Blatt auf die vor kurzem aufgestellte „Dialogsäule“ am Karl-Marx-Platz neben dem Gewandhaus. „Das ist wie eine Frischzellenkur nach 40 Jahren Knebelung“, sagt er. Am Sonntag wird er wieder zur „Volksaussprache“ gehen, wie die von Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur seit einigen Wochen veranstalteten Diskussionsrunden heißen.

Von der Realität überholt

Leipzig hat buchstäblich über Nacht eine kreative Unruhe erfasst, und nicht nur SED-Funktionäre haben Schwierigkeiten mit dem überstürzten Aufbruch in eine neue Zeit. Auch die Kabarettisten haben Mühe, mit dem Tempo Schritt zu halten. Bis vor kurzem erzwang die Zensur Programmänderungen. Jetzt sind es die Ereignisse. „Wir kommen nicht mehr mit dem Aktualisieren nach“, gesteht Heiderose Seifert von der „Pfeffermühle“. Eine ganz aktuelle Nummer über das verkorkste Reisegesetz muss ausfallen. Die Gags werden von der Realität überholt.