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99-Jährige verurteiltAlter und Wegsehen schützen nicht vor Strafe für NS-Verbrechen

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20.08.2024, Leipzig: Wolf Molkentin, Rechtsanwalt, sitzt im Saal des Bundesverwaltungsgerichts.

Wolf Molkentin, Rechtsanwalt, sitzt im Saal des Bundesverwaltungsgerichts. Molkentin vetrtitt vor dem Bundesgerichtshof Irmgard F. Die inzwischen 99-jährige ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof wurde wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und versuchten Mordes in fünf Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Das Urteil zeigt, dass Verantwortliche der Taten in den Konzentrationslagern – ob nun Haupttäter oder Handlanger – bis zum Ende ihres Lebens Strafverfolgung befürchten müssen.

Dass eine 99 Jahre alte Dame wegen Beihilfe zum Massenmord zu einer Jugendstrafe verurteilt wurde, ist kein Witz und keine Übertreibung. Es ist ein rechtsstaatliches Urteil, das nun von den höchsten Strafrichtern des Landes überprüft und für korrekt befunden worden ist. Es trägt der Verantwortung des Einzelnen für seine Taten in den Konzentrationslagern Rechnung, selbst wenn sie vor acht Jahrzehnten verübt wurden, und es erfüllt die Forderung von Überlebenden und Hinterbliebenen, dass sich die Verantwortlichen von damals – ob nun Haupttäter oder Handlanger – bis zum Ende ihres Lebens vor Strafverfolgung fürchten müssen.

Das Landgericht Itzehoe, das die Pensionärin aus Norddeutschland Ende 2022 verurteilt hatte, sah es als erwiesen an, dass die zur Tatzeit 1943 bis 1945 zwischen 18 und 20 Jahre junge Frau als Schreibkraft des KZ-Kommandanten in Stutthof bei Danzig durch ihre Arbeit den SS-Mördern bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet hat. Der BGH bestätigte zugleich die Einschätzung, dass die Verurteilte durch ihre Dienstbereitschaft psychische Beihilfe zu den Mordtaten geleistet hat.

Urteil ist historisch und sendet ein Signal in die Gegenwart

Das Urteil ist zum einen historisch und sendet zum anderen ein Signal in die Gegenwart. Historisch, da nun erstmals eine Zivilangestellte eines Vernichtungslagers rechtskräftig verurteilt wurde und sie angesichts des hohen Lebensalters wahrscheinlich die letzte Angeklagte war. Wie Millionen Deutsche nach dem Krieg, berief sich die 99-Jährige in dem Verfahren auf Erinnerungslücken und darauf, von den Nazi-Verbrechen eigentlich nichts gewusst zu haben. Doch die Tötung Zehntausender Menschen fand tatsächlich vor ihrem Bürofenster statt. Womöglich hat sie auch den Geruch verbrannten Menschenfleischs aus den Krematorien gerochen.

Alter – ob als Teenager oder als fast Hundertjährige – schützt nicht vor Verantwortung und rechtlicher Verantwortlichkeit. Die junge Frau hätte damals wenigstens Nein sagen und kündigen können. Sie tat es nicht, schrieb stattdessen bis zur Räumung des KZ Stutthof im April 1945 diensteifrig Deportationslisten, Tötungsbefehle oder bestellte mutmaßlich Materialien zur Herstellung des Giftgases Zyklon B.

Jetzt jedoch haben die BGH-Richter in Leipzig weitere Ausrufezeichen gesetzt, die ins Heute reichen. Erstens: Wegschauen schützt nicht vor Strafverfolgung. Zweitens: Wer Verbrechern dient, und sei es nur durch Verwaltungsakte, kann sich mitschuldig machen. Dies könnte zum Beispiel Auswirkungen haben auf aktuelle Prozesse wie den gegen das systematisch betrügerische Finanzunternehmen Wirecard. Hier stehen bislang allein die Haupttäter vor Gericht. Denen hat jedoch ein Heer von Buchhaltern, Assistenten und Schreibkräften zugearbeitet. (rnd)