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Nachprüfungen und Einsnuller-RekordeSo liefen die Abiturprüfungen 2022

Lesezeit 6 Minuten
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Schülerinnen bei den diesjährigen Abiturprüfungen. 

Köln – Die allermeisten der 73.000 Abiturientinnen und Abiturienten in Nordrhein-Westfalen haben ihre Abiturprüfungen hinter sich. Ganz geschafft ist es für viele allerdings noch nicht: Es laufen noch die so genannten Bestehensprüfungen für diejenigen, denen noch Punkte fehlen, um das Abitur am Ende doch noch in der Hand zu halten. Obwohl also noch nicht klar ist, wie der dritte Abiturjahrgang seit Beginn der Corona-Pandemie insgesamt abschneiden wird, warten schon jetzt alle gespannt auf das Ergebnis. Wird dieser Abitur-Jahrgang wieder besser als der vorherige?

Denn schon der vergangene Abi-Jahrgang 2021 brach trotz der großen Einschränkungen durch Corona mit Bestnoten alle Rekorde: Die durchschnittliche Abiturnote lag bei 2,34. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 lag diese bei 2,42 Prozent, davor bei 2,7. Der nordrhein-westfälische Philologenverband kommt daher zu dem Schluss, dass die Abiturdurchschnittsnoten „in jedem Jahr besser wurden und werden“.

Ein nicht repräsentativer Blick in die Kölner Schulen zeigt ein uneinheitliches und deutlich differenzierteres Bild: Augenscheinlich auch abhängig davon, in welchem Stadtteil die Schule liegt. Auch wenn noch nicht alle Abiturienten durch sind, steht im Schiller-Gymnasium in Sülz schon jetzt fest, „dass das Ergebnis aus dem letzten Jahr noch mal getoppt wird“, sagt Schulleiter Georg Scheferhoff auf Anfrage. Acht der 109 Abiturientinnen und Abiturienten – also die Rekordquote von über sieben Prozent – schlossen sogar mit der Bestnote 1,0 ab. Bestehensprüfungen gab es quasi keine.

Breite Spitze und dickes Ende

Am Thusnelda-Gymnasium in Deutz ist die Lage deutlich heterogener. Auch dort haben drei der 100 Abiturientinnen und Abiturienten mit der Bestnote 1,0 abgeschnitten. Ein Viertel der Prüflinge erzielte einen Abiturschnitt mit einer Eins vor dem Komma. „Gleichzeitig haben wir noch nie so viele Bestehensprüfungen gehabt“, sagt Schulleiter André Szymkowiak. Eine Rekordzahl von 15 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten muss dort in diese Prüfung, die die letzte Chance bietet, doch noch die benötigte Mindestpunktzahl zu erzielen.

Auch die schwachen Abiturnoten im Dreierbereich seien mit 30 Prozent deutlich mehr als in den Jahren zuvor. „Aus den Zahlen erkennt man eben, dass wir keine Normalverteilung haben, sondern neben einer breiten Spitze auch ein 'dickes Ende'“, so Szymkowiak. Das belegt aus Sicht des Pädagogen die Auswirkungen von Corona auf die Bildungsgerechtigkeit: „Die starken Schüler konnten sich sogar verbessern, die schwachen drohen hinten runterzufallen.“

Der Philologenverband NRW zieht eine ähnliche Bilanz: In den letzten Jahren sei die Zahl an Bestehensprüfungen im ganzen Bundesland verhältnismäßig hoch gewesen, so die Vorsitzende Sabine Mistler. Die breiten Spitzen zeigen sich auch in den Zahlen des Verbandes: 2021 schnitten 3,16 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten mit der Bestnote 1,0 ab. 2007 waren es noch 0,64 Prozent – der Anteil an Einsnuller-Prüflingen hat sich somit verfünffacht.

Philologenverband sieht Noteninflation kritisch

Laut einer Umfrage des Philologenverbandes fanden die meisten Gymnasiallehrkräfte (knapp 80 Prozent) die diesjährigen Abiturprüfungen angemessen. Kritik kam, wie in den meisten Jahren, von den Mathematiklehrern: Die Aufgaben seien zu textlastig gewesen, den Prüflingen rannte die Zeit davon.

„Ich gehe davon aus, dass die Noten insgesamt vergleichbar ausgefallen sind wie letztes Jahr“, sagt Mistler. Laut ihren Kollegen sei der Schnitt gerade in den Sprachprüfungen gut, auch bei den Gesellschaftswissenschaften hätten die Schülerinnen und Schüler beachtliche Klausuren abgegeben. „In der Regel schneiden die Schülerinnen und Schüler in den Neigungsfächern, also den Wahlfächern, besser ab“, erklärt sie.

In Fächern wie Englisch steigt der Notendurchschnitt seit einigen Jahren an. Mistler sieht hier einen Zusammenhang mit den veränderten Anforderungen: „Der Schwerpunkt wird jetzt eher auf die Kommunikationsfähigkeit gelegt als auf die Sprachrichtigkeit“, sagt sie. Zudem dürfen Schülerinnen und Schüler heute bilinguale Wörterbücher in Klausuren benutzen, während noch vor wenigen Jahren nur monolinguale gestattet waren.

Eine Entwicklung, die der Philologenverband nicht nur positiv sieht: Zwar sei es richtig, die kommunikativen Fähigkeiten zu fördern, so Mistler, doch der Fokus solle auch auf „fundamentalen Aspekten“ liegen: „Sprachrichtigkeit, Literaturwissen – das gehört für uns zu einem vertiefenden Allgemeinwissen dazu.“ Auch die Noteninflation sieht sie kritisch: Das Abitur müsse die Prüflinge schließlich auf das Studium vorbereiten, so Mistler. Dieses Studium brechen derzeit eine hohen Quote an jungen Menschen ab. 

„Eine Riesenleistung trotz großer Belastung“

Das nordrhein-westfälische Schulministerium sieht offensichtlich kein Problem bei den guten Abiturnoten: Die Mittelwerte der Abiturnoten seien „relativ konstant auf einem guten Niveau geblieben", schreibt das Ministerium auf Anfrage. Insgesamt hätte sich der Mittelwert leicht nach oben verschoben. „Die guten Ergebnisse weisen darauf hin, dass in der gymnasialen Oberstufe sehr gute Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Schülerinnen und Schüler die Abiturprüfungen erfolgreich absolvieren können“, so das Ministerium.

Schulleitungen mögen ebenfalls nicht einstimmen in das kritische Lied von der Noteninflation. „Das ist ungerecht, weil da doch die Unterstellung mitschwingt, die Schüler bekämen quasi mehr für dasselbe Geld“, beklagt Schulleiter Szymkowiak. Das schmälere die große Leistung, die gerade dieser Jahrgang in der Corona-Pandemie erbracht habe. Denn die Abiturientinnen und Abiturienten hätten die gesamte Oberstufenzeit von EF bis Abitur im Pandemiemodus erlebt. „Das war eine Riesenleistung trotz großer psychischer Belastung und viel Unsicherheit“, die auch Schulleiter Scheferhoff ungeschmälert anerkannt sehen möchte.

Etliche seien teilweise mehrmals in Quarantäne gewesen, alle hätten mit einer komplexen, immer neu unklaren Situation zu tun gehabt. Viele hätten auch psychisch immer noch mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen. „Dass sie das trotzdem so geschafft haben, verdient Respekt statt Argwohn.“ Auf die Frage nach Erklärungen, warum die Noten trotz Pandemieeinschränkung so gut sind, betont er, wie hilfreich für viele gewesen sei, dass es bei den Abitur-Jahrgängen unter Corona als Entgegenkommen vier statt drei Themen zur Auswahl gegeben habe. „Das hat für viele genau die Lücke geschlossen.“

Bundeseinheitliches Abitur könnte Notenanstieg stoppen

André Syzmkowiak sieht den Grund unter anderem darin, dass der Unterricht im Laufe der letzten zehn Jahre besser und differenzierter geworden sei. „Außerdem ist ein Riesenvorteil – auch verstärkt durch Corona - , dass nicht mehr der Unterricht allein das Monopol auf Inhalte und Vermittlung hat. Fast alle Schüler nutzen Youtube-Videos und Tutorials, um sich Stoff erklären zu lassen. So oft, bis sie es verstanden haben.“ Durch die nun jahrelangen Erfahrungen mit dem NRW-Zentralabitur sei die Vorbereitung außerdem sehr auf die Prüfungen und die Prüfungsformate zugeschnitten. „Da wird ganz viel am Beispiel geübt.“

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Aber selbst wenn auch in diesem Jahr der Abiturdurchschnitt in Nordrhein-Westfalen nach der Auswertung der Zahlen noch einmal nach oben gehen sollte. Schulleiter Scheferhoff sieht bereits ein Ende der stetigen Steigerung am Horizont: Ab 2023 – so hat es die Kulturministerkonferenz beschlossen – gibt es erstmals einen bundeseinheitlichen Aufgabenpool, aus dem die Schulen mindestens 50 Prozent der Aufgaben übernehmen müssen und daran nichts verändern dürfen. Zunächst für die Fächer Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch, ab 2025 auch für die Fächer Biologie, Chemie und Physik. Lediglich die restlichen 50 Prozent der Aufgaben kommen aus dem nordrhein-westfälischen Pool. „Dann erwarte ich, dass der kontinuierlich steigende Trend ein Ende erreicht.“