Ein Gutachten soll klären, ob sich Landrat und Krisenstabsleiter schuldig gemacht haben. Ein Zwischenbericht listet eine ganze Reihe von Fehlern auf.
Schuldfrage soll endlich geklärt werdenWährend der Flut im Ahrtal versagten die Verantwortlichen auf allen Ebenen
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Koblenz und einer Ermittlungsgruppe des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamts (LKA) zur tödlichen Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 neigen sich dem Ende zu. Knapp 10.000 Seiten füllen inzwischen die Ermittlungsakte. Hunderte Zeugen bis hin zum abgetretenen rheinland-pfälzischen Innenminister Roger Lewentz (SPD) wurden vernommen, zahlreiche Behörden und Objekte durchsucht. Nach wie vor gehen die Strafverfolger der Frage nach, ob der damalige Landrat von Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), und sein Leiter des Krisenstabes sich des fahrlässigen Totschlags durch Unterlassen schuldig gemacht haben.
Zwei Jahre nach der Katastrophe steht weiter der Anfangsverdacht im Raum, dass die Bewohner im Ahrtal zu spät vor der heranrollenden Flut gewarnt wurden. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli starben in der Region 134 Menschen.
Hätten die Schaden der Flut abgemildert oder gar verhindert werden können?
Um die Schuldfrage letztlich zu klären, hat die Staatsanwaltschaft nach Informationen des Kölner Stadt-Anzeiger Ende Mai bei einem Treffen Dominic Gißler mit einem entsprechenden Gutachten beauftragt. Der Professor für Führung im Bevölkerungsschutz an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin wird mehrere Punkte beleuchten. Laut einem Vermerk der Staatsanwaltschaft soll der Experte herausfinden, welche „Handlungsoptionen“ der Technischen Einsatzleitung (TEL) nebst dem zuständigen Landrat für den Katastrophenschutz seinerzeit offenstanden. Ferner gilt es zu klären, ob die Verantwortlichen durch ein besseres Krisenmanagement „die Schadensereignisse“ durch die Sturzflut hätten abmildern oder gar verhindern können.
Zudem geht es darum, inwieweit die Beschuldigten sich bereits im Vorfeld ausreichend auf die drohenden Starkregenfälle und deren Folgen für das Ahrtal vorbereitet hatten. Die Staatsanwaltschaft will überdies wissen, ob der Landkreis Ahrweiler über ein „leistungsfähiges Führungssystem“ verfügte, um Großeinsätze und Katastrophen zu bewältigen. Nach den bisherigen Nachforschungen lag offenbar keine Liste besonders schützenswerter Einrichtungen vor, die man frühzeitig hätte warnen oder evakuieren müssen. In dem Kontext soll der Gutachter klären, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, einen Verwaltungsstab einzurichten. Zeugenaussagen belegen, dass der einstige Landrat trotz entsprechender Warnungen im Vorfeld ein derart eingespieltes Katastrophenschutzteam nicht aufbaute.
Kritik an der Hilfe zum Wiederaufbau
Nach Recherchen dieser Zeitung versprach der beauftragte Bevölkerungsschutzexperte, bis Ende August seine Expertise zu liefern. Dies wäre der Grundstein für die Entscheidung, ob die Staatsanwaltschaft die beiden Beschuldigten anklagen wird oder nicht.
Professor Gißler sorgte bereits im März im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe in Mainz für Aufsehen, als er die oberste rheinland-pfälzische Bevölkerungsschutzbehörde ADD für ihre Wiederaufbauhilfe nach der tödlichen Flutwelle kritisierte. Gißler bemängelte, dass mehrere Personalwechsel zu „erheblichen Reibungsverlusten“ geführt hätten. Da die Anfragen aus den zerstörten Orten über eine Kommunikationszentrale abgewickelt werden mussten, sei es häufiger zu Missverständnissen gekommen und ein „Flaschenhals“ entstanden. Die Einsatzleitung sei nicht mängelfrei verlaufen. Flutopfer hätten sich allein gelassen gefühlt.
Die Verteidiger der beiden Beschuldigten reagierten kritisch auf den neuerlichen Gutachterauftrag. Auf Anfrage wunderte sich Christoph Arnold, Verteidiger des Krisenstabsleiters, „dass die Staatsanwaltschaft erst nach zwei Jahren auf die Idee kommt, einen Gutachter mit der entscheidenden Fragestellung zu beauftragen“. Aus seiner Sicht liegt es auf der Hand, „dass alle Beteiligten durch die unvorstellbare Wucht der Ereignisse völlig überrascht wurden und nicht mehr hätten tun können als geschehen“.
Sein Kollege Olaf Langhanki, der den Ex-Landrat Jürgen Pföhler vertritt, erklärte erneut: „Bis heute hat die Staatsanwaltschaft nicht mitgeteilt, welche Vorwürfe meinem Mandanten konkret gemacht werden.“ Zugleich monierte der Strafverteidiger aus Mainz bei der Aufklärung der Schuldfrage erhebliche Defizite. Aus seiner Sicht trägt die Landesregierung nebst der nachgeordneten Behörde ADD einen gehörigen Teil der Verantwortung. „Bisher aber sind weder die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) noch die damalige Umwelt- und spätere grüne Bundesfamilienministerin Anne Spiegel zur Flutnacht vernommen worden.“
Bericht: Alle Ebenen versagten
Das ist eine Sicht der Dinge. Ein Zwischenbericht des LKA vom September 2022, den der Kölner Stadt-Anzeiger einsehen konnte, gelangt zu weitreichenderen Schlüssen. Demnach haben alle Ebenen versagt, von den Wetterprognostikern über die TEL in Ahrweiler mithin hoch zur Landesregierung. Bis in die frühen Morgenstunden des 15. Juli konnten nur zwei Hubschrauber zur Menschenrettung eingesetzt werden. Der Krisenstab in Ahrweiler habe komplett den Überblick verloren. Während die Flutwelle das Tal herunterrauschte, fehlte es ferner an einer Meldekette zwischen den Ortsbürgermeistern.
Um 17.40 Uhr übernahm der Krisenstab in Ahrweiler die Regie. Landrat Pföhler hatte kurzerhand die Verantwortung dem TEL-Leiter übergeben. Das Personal für diesen Krisenstab erfolgte laut LKA „nach dem Zufallsprinzip“. Die Mannschaft sei nicht für solche Katastrophenfälle eingeübt gewesen, heißt es in dem Bericht, viel zu spät habe man das Ausmaß der Flutwelle erkannt. Das LKA spricht von einer völligen Fehleinschätzung der Lage. Aus Sicht der Ermittler hat der Landrat „die Aufgabe eines Einsatzleiters nicht gewissenhaft ausgeführt“. Nach einem Besuch mit dem damaligen Innenminister gegen 19.20 Uhr habe sich Pföhler nicht mehr im Krisenstab blicken lassen und sei auch nahezu nicht mehr erreichbar gewesen.
Zudem habe es das Land versäumt, „die Funktionsfähigkeit der unteren Katastrophenschutzbehörde“ der Kreisverwaltung Ahrweiler vor den Starkregenströmen zu überprüfen. So gab es keine Alarmierungsketten oder „Möglichkeiten der Informationsgewinnung“. Eine Kontrolle durch die oberste Landesbehörde ADD fehlte völlig.
Zugleich bemängelte der Ermittlungsleiter, dass es keinen landesweiten Führungsstab gegeben habe, „der vorbereitet oder eingerichtet worden ist…, der diese Einsatzlage hätte übernehmen können“.
Ferner seien die Warnhinweise seinerzeit für die Bewohner der Städte Bad Neuenahr und Sinzig unzureichend gewesen. Für Ober- und Mittelahr hätten diese gänzlich gefehlt. Als Fazit kommt der Zwischenbericht zu dem Ergebnis, dass quasi alle Ebenen völlig überfordert waren. „Um den Tod von Menschen zu verhindern oder die Opferzahl zumindest zu reduzieren, hätten alle beteiligte Akteure … bis hin zu politisch Verantwortlichen vor Ort und an anderen Stellen von Beginn an das Richtige tun müssen.“ Eine wirkungsvolle Führungsorganisation sei nicht vorhanden gewesen, „dazu konnte auf ein für diese Ausnahmesituation geeignetes Warnsystem und ausreichende Ressourcen an Einsatzmitteln nicht zurückgegriffen werden.“