Kommentar zu Gauland und ÖzoguzAbkehr vom deutschen Kulturbegriff hilft Populisten
Köln – Als 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge hierher kamen, wurde weltweit ein Begriff dafür geprägt: deutsche Willkommenskultur. Niemand hat sich seinerzeit daran gestört. Im Mai 2017 jedoch urteilt die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD): „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“
In ihrem Zeitungsartikel gerät ihr einiges mehr durcheinander. Dass das deutsche Grundgesetz auch Ausdruck einer spezifisch deutschen Kultur sein kann, nimmt die in Hamburg geborene Politikerin gar nicht erst wahr.
Dies muss indes nicht weiter wundern, denn ihre Äußerungen fielen bereits in die Wahlkampfzeit. Die Politik ist dann häufig im Modus des Tunnelblicks unterwegs. Der richtet sich weniger auf Bürger als auf den politischen Gegner. Nicht anders hier: Kurz zuvor hatte Innenminister de Maizière (CDU) 15 Thesen zu einer „Leitkultur“ veröffentlicht. Tenor: „Wir sind nicht Burka.“ Der Beitrag der Integrationsbeauftragten war also auch eine Art Entgegnung auf den Innenminister.
Die Kultur der Bundesrepublik ist westlich
Warum kritisierte seinerzeit kaum jemand Aydan Özoguz? Weil Teile des etablierten Politikbetriebs mit dem Begriff einer „deutschen Kultur“ tatsächlich wenig anfangen können. Eben erst hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) den Kern des Selbstverständnisses und der Kultur der Bundesrepublik nicht spezifisch deutsch, sondern europäisch, westlich, genannt.
Entfernt man sich gedanklich und räumlich nur weit genug von Europa, mag man eine solche Einschätzung teilen, etwa wenn man vom Mond aus auf Europa blickt. Aber aus dem nahen Erleben eines Bürgers wirkt ein solches Urteil befremdlich. Es deckt sich auch nicht mit der Alltagserfahrung. Bereits im Urlaub erlebt man auch europäisches Ausland als kulturell anders, was übrigens den Reiz von Reisen ausmacht.
Die Abkehr von der eigenen Kultur wäre in anderen Ländern undenkbar
Solche politischen Äußerungen wären in einem Land wie Frankreich, das bereits seine Sprache mit Hingabe pflegt, schwer denkbar. Sie würden auch dem Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, das sich deutlich von dem der Bundesrepublik unterscheidet, zuwiderlaufen. Über die kulturellen Wurzeln eines südeuropäischen Verständnisses von Wirtschaftspolitik gibt es wissenschaftliche Abhandlungen. Und in Großbritannien mündete die Sorge vor dem Verlust einer eigenen Identität im Brexit-Votum.
Die gedankenlose Abkehr von einer eigenen Kultur – wohlgemerkt nicht dem politisch aufgeladenen Begriff der Leitkultur – begünstigt populistische Strömungen. Die Ignoranz gegenüber offenbaren Unterschieden in der kulturellen Entwicklung führt nicht zu einem stärker vereinten Europa, sondern eher zu deutlichen Bruchstellen.
Nur wenige diskutieren die Thesen von Özogur und Lammert
Der AfD-Politiker Alexander Gauland verwendete jetzt den Begriff des „Entsorgens“ für Aydan Özoguz und deren Äußerungen. Dieser Begriff stammt aus der Abfallwirtschaft, benennt den Umgang mit Sondermüll und lässt noch weitergehende Interpretationen als die Deportation der Integrationsbeauftragten auf eine Deponie in der türkischen Region Anatolien zu. Der 76-Jährige weiß, was er mit seinen Äußerungen auslöst. Die berechtigte Kritik an ihm macht ihn – ähnlich wie Donald Trump im Wahlkampf – für seine Anhänger nur noch größer. Und das öffentlich-rechtliche Qualitätsfernsehen sorgt mit seinen Empörungs-Shows verlässlich dafür, dass die Hassbotschaft ins letzte Wohnzimmer getragen wird.
Wer aber diskutiert die Thesen von Özoguz und Lammert? Nur wenige. Eine Mehrheit hat offenbar Sorge, in die Nähe der AfD gerückt zu werden. In der deutschen Politiksprache bedeutet das: Diese Partei hat ein Feld besetzt. Will man tatsächlich ihr allein die Auseinandersetzung überlassen, was deutsche Kultur sein kann?