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Essay zur US-WahlAmerika, was ist mit Dir?

Lesezeit 7 Minuten
06.11.2024, USA, West Palm Beach: Der republikanische Präsidentschaftskandidat und frühere Präsidentschaftskandidat Donald Trump winkt, während er mit der ehemaligen First Lady Melania Trump bei einer Wahlparty im Palm Beach Convention Center am Mittwoch, 6. November 2024, in West Palm Beach, Florida, über die Bühne geht.



Donald Trump wird wohl zum zweiten Mal Präsident der USA. (zu dpa: «Ampel-Showdown unter dem Eindruck des Trump-Siegs») Foto: Evan Vucci/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die klassischen US-Medien haben sich verschätzt: Donald Trump ist zum 47. Präsidenten der USA gewählt worden.

Das Ergebnis der US-Wahl entsetzt viele. Wie konnte ein 78 Jahre alter Mann mit groteskem Gesichts-Make-up, schuldig gesprochen wegen sexuellen Missbrauchs, das Weiße Haus erobern?

112 avocadogrüne Dosenöffner in Florida haben vor 47 Jahren die Vereinigten Staaten für immer verändert. Ein Werbekunde eines Radiosenders im Städtchen Clearwater konnte seine Spots nicht bezahlen und war ohnehin der Meinung, dass ihr Abspielen in dem verstaubten Radioprogramm seinem Geschäft nichts gebracht hatte. Statt Geld übergab er dem Besitzer des Senders, Bud Paxton, eine Kiste mit den Dosenöffnern. Paxton ging damit zu seinem Moderator Bob Circosta und sagte: „Schau, ob du sie verkaufen kannst.“ Circosta pries die Küchenutensilien live auf dem Sender. Er wurde noch am selben Tag alle los. Er hatte damit das Prinzip Teleshopping erfunden, wenn auch vorerst noch ohne Bild.

Aus der Aktion entstand die Idee für eine Verkaufsshow namens „The Bargaineers“ („Die Schnäppchenjäger“), die Sendung führte dazu, das gleiche Prinzip im Lokalfernsehen zu versuchen. Aus der ersten Sendung dort wurde das „Home Shopping Network“ (HSN), der erste Fernsehshopping-Sender der USA – und ein Riesenhit: 1990 erzielte HSN mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz. Teleshopping passte wunderbar in ein verspieltes Land, das sich gerne vom Fernseher unterhalten lässt und noch viel lieber Neues ausprobiert. Teleshopping steht für die kindliche Freude am Neuen und Überdrehten. Es passt zu dieser oft warmherzig-albernen Nation – die USA sind im Grunde ein Land, das sich gerne auf die Zukunft freut, Deutschland ist ein Land, das gerne vor der Zukunft Angst hat.

Und genau deshalb ist der erneute Erfolg von Donald Trump so irritierend.

Es passt auf den ersten Blick einfach nicht zu dieser Riesennation mit ihrer „Das Beste liegt noch vor uns“-Attitüde, dass Trumps rückwärtsgewandter und angstbesetzter Wahlkampf schon wieder Erfolg haben konnte. Schon gar nicht gegen die Freude und das breite Lachen einer Frau, die als erste Schwarze im Weißen Haus Geschichte geschrieben hätte. Wie also konnte Trump gewinnen? Schon wieder.

Trumps Reden sind Gebrabbel voller Hass

Immerhin ist Donald Trump ein 78 Jahre alter Mann mit groteskem Gesichts-Make-up, schuldig gesprochen wegen sexuellen Missbrauchs und Verschleierungen von Schweigegeldzahlungen an einen Pornostar; ein Politiker, der nach seiner letzten Wahlniederlage 2020 einen gewalttätigen Mob zum Sturm auf das Kapitol anstiftete und, als er von Morddrohungen gegenüber seinem Vize erfuhr, nur sagte: „Na und?“. Gewonnen hat ein zusammenhanglos brabbelnder Wahlkämpfer, der anderthalbstündige Reden voller Hass, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Gewaltfantasien hält.

ARCHIV - 02.06.2024, USA, West Palm Beach: Anhänger von Donald Trump im Wahlkampf (zu dpa: «Chinesische Hersteller profitieren von Trump-Fanartikeln») Foto: Jim Rassol/FR171669 AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wahlkampf in den USA: Anhänger von Donald Trump mit Fahnen.

Aber Trump ist eben auch ein Typ, der unsicher ist und seine eigenen Schwächen schamlos mit lautestmöglichem Getöse überspielt. Klar, er löst bei Gegnern Angst aus. Aber er passt dennoch in den Zeitgeist, denn die USA als Gesellschaft sind ähnlich tief verunsichert wie Trump. Und sie reagieren wie er darauf mit Lautstärke. „Fake it till you make it“ ist eine Haltung, die auch uns Europäern oft ein wenig imponiert: Tu einfach so lange so, als hättest du Erfolg, bis dieser dann wirklich eintritt. Tritt selbstsicher auf, täusche über deine Unsicherheit hinweg, biege dir die Realität zurecht, bis sie passt.

Donald Trump ist der Ober-Faker, der größte Täuscher des Landes, eine Arme-Menschen-Idee eines reichen Menschen. Es ist nicht einmal klar, ob er wirklich ein Milliardär ist, aber fest steht, dass er über Jahre hinweg einen Milliardär im Fernsehen gespielt hat. In der Realitysendung „The Apprentice“ gab er den sagenumwoben reichen Immobilienmagnaten, der möglichen Mitarbeitern zuruft: „You’re fired!“

Die Show hatte Rekord-Einschaltquoten, und sie ist noch heute der Grund dafür, dass Millionen Amerikaner Trump für einen begnadeten Geschäftsmann halten. Bis zuletzt haben Wähler gesagt, dass sie Trump in Wirtschaftsfragen mehr zutrauen als Kamala Harris.

Wenn aber Wähler in den immergleichen TV-Straßenumfragen oberflächlich sagen, dass ihnen einfach Eier und Benzin zu teuer sind, dann wissen sie auch, dass diese Antworten akzeptierter sind als andere, düsterere Wahrheiten. Fakt ist, dass im Wahlkampf 2024 niemand mehr behaupten konnte, nicht zu wissen, was Trump möchte. Er hat angekündigt, 20 Millionen Menschen deportieren zu wollen, die er für Illegale im Land hält. Er hat versprochen, seinen politischen Gegnern das Militär auf den Hals zu jagen. Und er will mit astronomischen Zöllen auf Importe die heimische Wirtschaft stützen, ohne dass er je einräumt, welche katastrophalen Folgen das für Preise und Inflation hätte.

Die Wahrheit dürfte ähnlich sein wie auch in AfD-Deutschland: Millionen Menschen sehen solche Versprechen und entscheiden, dass sie haargenau das von ihrer Politik wollen. Sie entscheiden sich bewusst für den Rassismus und die radikale Agenda. Es ist ein unterbeleuchtetes Geheimnis von Donald Trump und anderen Autoritären: Er verspricht den Menschen nicht, dass sie selbst aufsteigen – er verspricht ihnen nur, dass sie weiterhin Leute haben werden, auf die sie herabschauen können.

Joe Biden hat die Nation nicht geheilt

Joe Biden hat das unterschätzt. Er hat während seiner Amtszeit darauf gewettet, dass Politik noch so funktioniert wie in den 1980er-Jahren, mit Kompromissen und Handschlag-Abkommen zwischen Washingtoner Ehrenleuten. Er hat vielleicht gewusst, dass die Trump-Republikaner längst nicht mehr für Verlässlichkeit und Verantwortungsgefühl stehen, aber sein Kalkül war, dass sie sich eines Besseren besinnen, wenn die Früchte seiner Politik bei den Wählern ankommen.

Er hat einiges erreicht: niedrigere Armut unter Kindern, die vielleicht volkswirtschaftlich erfolgreichste Politik einer Industrienation aus der Covid-Krise heraus, Milliardeninvestitionen in Infrastruktur und grüne Energien. Einen neuen Konsens allerdings, den hat er damit nicht hergestellt. Stattdessen sind die Menschen einfach wütend darüber geblieben, dass Häuser und Lebensmittel teurer wurden und in den U‑Bahnen ihrer Städte mehr arme Frauen aus Südamerika mit Babys auf dem Rücken Süßigkeiten verkauften.

Die klassischen US-Medien haben sich ähnlich verschätzt. Auch sie haben oft so getan, als sei eine Rückkehr zu ihrer erfolgsverwöhnten Normalität vor zwei Jahrzehnten möglich. Die „New York Times“ schrieb im Wahlkampf vornehm von Trumps „Falschheiten“ und „rassengefärbten Aussagen“, anstatt „Lügen“ und „Rassismus“ klar zu benennen.

Diese Kritik hat aber zugegebenermaßen eine Schwäche, denn eigentlich ist die „Times“ egal. Längst ist das Mediennutzungsverhalten ein anderes: Die „New York Times“ verkauft weniger als 300.000 gedruckte Zeitungen pro Tag. Eine Fox-News-Talksendung am Abend erreicht vier Millionen Zuschauer, das Youtube-Interview von Donald Trump mit dem libertären Podcaster Joe Rogan steht aktuell bei 47 Millionen Aufrufen. In fast 10 Prozent aller US-Countys gibt es keine Lokalzeitung mehr. In knapp der Hälfte gibt es nur noch ein Medium, in der Regel eine dünne Anzeigenwochenzeitung.

Die Hälfte der Amerikaner können nicht sehr gut lesen

All das stößt auf ein erschreckend schlecht gerüstetes Publikum: 54 Prozent aller Amerikaner zwischen 16 und 74 Jahren haben Lesefähigkeiten, die unter denen eines durchschnittlichen Sechstklässlers liegen. Wer sich deren Nachrichtenkonsum ausmalt, kann schnell nachvollziehen, wieso die Republikaner rund um Trump einen kaum einzuholenden Vorteil gegenüber den Demokraten mit ihren elitären Küstenmedien haben.

Aber all diese Betrachtungen taugen nicht für deutschen Hochmut über die mutmaßlich leicht verführbaren und untergebildeten US-Amerikaner. Auch wir sind erschreckend oft apolitisch. Wir müssen nur verstehen, dass Washington für die US-Amerikaner nicht das ist, was wir in Berlin sehen, sondern Washington unserem Brüssel entspricht: weit weg, undurchsichtig bürokratisch, aber mit großem Einfluss auf den Alltag. Und selbst bei politischen Inhalten erleben wir ähnliche Debatten. Aufschreie gegen das Gendern sind nichts anderes als US-Diskussionen über angeblich zu „woke“ Politik. Auch bei uns strafen die Menschen sofort eine Partei ab, wenn sie ihre eigenen Versprechen einer Vollkaskowirtschaftspolitik mit niedrigen Preisen nicht entspricht.

Wir können lange versuchen, uns einzureden, dass US-amerikanische Verhältnisse in Debattenkultur, Politikverzerrung und Populismusanfälligkeit bei uns noch in weiter Ferne liegen. Aber dafür sind wir uns am Ende in Zeiten globaler Informationstechnologien und jahrzehntelanger Popkulturübernahme viel zu ähnlich. Donald Trump und sein Erfolg lässt uns vielleicht im ersten Moment fragen: Wie können sie nur?

Aber eigentlich wissen wir die Antwort, denn wir sehen sie auch überall um uns herum.