Nach Demos amerikanischer Studierender formieren sich auch an deutschen Unis Proteste von propalästinensischen und israelfeindlichen Aktivisten.
Polizei löst Demos aufAnti-Israel-Aktivisten machen auch deutsche Unis zu Bühnen ihres Protests
Die jungen Menschen, die am Dienstag vergangener Woche kurz vor Mitternacht auf einem Bordstein in Harlem stehen, sind sichtbar aufgerüttelt. Eine Frau, höchstens Mitte 20, die ein Palästinensertuch über dem Mund trägt, zittert am ganzen Leib, und wenn sie anfängt zu sprechen, überschlägt sich ihre Stimme. Ihre Begleiterin tippelt daneben von einem Fuß auf den anderen und zieht nervös an einer Zigarette.
Nur wenige Meter von ihnen entfernt hat sich auf der Amsterdam Avenue eine Hundertschaft an Polizisten aufgebaut, sie tragen kugelsichere Westen und Helme und halten sich martialisch Schlagstöcke vor die Brust. Seit drei Stunden stehen sie nun schon hier am Eingang des City College der öffentlichen New Yorker Universität. Scheinbar wahllos verhaften sie seither Studentinnen und Studenten, teilweise mit rabiater Gewalt, und setzen sie in wartende Gefängnisbusse.
Am Nachmittag hatte die Universitätsleitung im Konzert mit der kaum zwei Kilometer entfernten Columbia University die Polizei gerufen, um die Studentenproteste gegen den Gazakrieg einzudämmen. Die Zeltlager an beiden Universitäten wurden geräumt, die Polizisten drangen über einen Kran in den zweiten Stock der Hamilton Hall von Columbia ein, um die Demonstranten abzuführen, die an jenem Nachmittag das Veranstaltungsgebäude besetzt hatten.
„Sie sind von beiden Seiten auf uns zugekommen“, erzählt eine der Studentinnen, die ihre Identität nicht preisgeben möchte. „Die Polizisten haben uns von hinten in die Polizisten vor uns gedrängt, damit es so aussah, als wären wir die Provokateure gewesen“, sagt sie, mit den Tränen kämpfend. Ihre Mitstreiterin liefert dazu gleich eine vielsagende Analyse. „Es ist genau wie in Gaza“, schreit sie in die Nacht. „Sie schicken uns eine Armee, die uns brutalisiert, obwohl wir hier nur friedlich unsere Rechte ausüben. Es sind genau dieselben Kräfte der Unterdrückung.“
„Sie sind eine Zionistin“, schreit ein junger Mann
Drei Tage später in Berlin. Auch an mehreren Hauptstadtuniversitäten finden seit Monaten immer wieder Proteste von propalästinensischen und israelfeindlichen Aktivisten statt. An diesem Freitag haben sie den Campus der Humboldt-Universität am Boulevard Unter den Linden in Berlin Mitte zu ihrer Bühne auserkoren. Gut drei Dutzend junge Männer und Frauen setzen sich am frühen Nachmittag vor das Universitätsgebäude. Viele tragen Palästinensertücher um den Kopf, einige haben sich zusätzlich mit Mundschutzmasken vermummt.
Unipräsidentin Julia von Blumenthal versucht, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Sit-ins ins Gespräch zu kommen. „Wir können uns gerne in einem Hörsaal treffen“, sagt sie durch ein Megafon. Doch die Aktivisten haben an einem solchen Dialog erkennbar kein Interesse: „Sie sind eine Zionistin“, schreit ihr ein junger Mann entgegen. Der unangemeldete Protest auf dem Unigelände wird schließlich von der Polizei aufgelöst, ein Teil der Demonstranten lässt sich von den Beamten wegtragen. Denen schlägt eine feindselige Stimmung entgegen: „Ganz Berlin hasst die Polizei“ rufen die Aktivisten im Chor. Auch in New York hatten sich Demonstranten gegen die Polizei gewandt. Dort riefen sie etwa „Oink oink, Schweinchen, Schweinchen, wir machen euch das Leben zur Hölle“.
In Berlin richtete sich die Aggression auch gegen die Medien. „Deutsche Medien lügen, hetzen und betrügen“, singen die Demonstranten. Immer wieder bedrängen sie Journalisten, verdecken Kameras mit Schildern und Tüchern und versuchen, die Medienvertreter an ihrer Arbeit zu hindern. Das ist kein Einzelfall: Die Organisation Reporter ohne Grenzen registriert seit dem Beginn des Kriegs in Gaza vermehrt Übergriffe auf Journalisten bei propalästinensischen Demonstrationen in Deutschland.
Auch verbotene Parolen werden ausgegeben
Den Aktivistinnen und Aktivisten an den deutschen wie den US-amerikanischen Hochschulen geht es um viel mehr als den aktuellen Krieg. In Berlin rufen sie etwa zu „Intifada und Revolution“ auf. In beiden Ländern gehört auch die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ zum festen Kanon der Protestslogans. Gemeint ist damit ein „freies Palästina“ vom Fluss Jordan bis ans Mittelmeer – das würde die Auslöschung Israels bedeuten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat die Parole im vergangenen November zum Kennzeichen der seitdem verbotenen Organisationen Hamas und Samidoun erklärt – womit auch das Rufen des Slogans auf Demonstrationen verboten ist.
Die Demonstranten auf beiden Seiten des Atlantiks betrachten Israel als „kolonialen Apartheidsstaat“ und fordern nicht nur ein Ende des Kriegs gegen die Hamas, sondern einen vollständigen Boykott des Landes – auch durch akademische Institutionen.
Für eine Mehrheit der amerikanischen Linken war schon unmittelbar nach dem 7. Oktober klar, dass die von der US-Regierung unterstützte „Kolonialmacht“ Israel am Überfall durch die Hamas letztlich selbst schuld sei. Bei einer Kundgebung am Times Square am 8. Oktober trugen Angehörige der Demokratischen Sozialisten Amerikas, denen sich unter anderem prominente Demokraten wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez zurechnen, Schilder mit der Aufschrift „Dekolonisierung ist keine Metapher“ und „By all means necessary“ – mit allen notwendigen Mitteln –, ein Zitat des Bürgerrechtskämpfers Malcolm X, der im Zweifel Widerstand gegen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner auch mit Waffengewalt befürwortete.
Jüdischen Studierenden wird der Zutritt verwehrt
In Deutschland ist die politische Linke in ihrer Einschätzung des Nahostkonflikts gespaltener als in den USA. Doch die antiisraelischen Teile insbesondere der radikalen Linken in Deutschland stehen ihrem amerikanischen Konterpart in nichts nach.
Das zeigt sich auch an mehreren Universitäten. Schon im Dezember 2023 besetzten Studierende, propalästinensische Aktivisten und Mitglieder linksradikaler und kommunistischer Gruppen einen Hörsaal der Freien Universität Berlin. Jüdische Studierende beklagten, die Besetzer hätten ihnen den Zutritt zu dem Hörsaal verweigert, es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen. Im Februar wurde ein jüdischer Student der Universität, der sich gegen diese Proteste gewandt hatte, außerhalb des Campus von einem propalästinensischen Kommilitonen angegriffen und ins Krankenhaus geprügelt.
Jüdische Studierende beklagten mehrfach ein Gefühl der Unsicherheit. Auch an amerikanischen Universitäten hat sich das Klima durch die Proteste verändert. Maytal Polonetsky, eine Studentin der Columbia-University im ersten Semester, sagt, dass sie ihren Kettenanhänger in der Form des Staates Israel auf dem Campus mittlerweile lieber verstecke. Sie fühle sich zwar nie physisch bedroht. Aber die vergangenen Monate seien emotional extrem anstrengend gewesen.
Rebecca Massel, Reporterin für die Studentenzeitung „Columbia Spectator“, interviewte nach dem 7. Oktober insgesamt 54 jüdische Studierende. Das Ergebnis war erschreckend: 13 berichteten, sie seien belästigt oder attackiert worden, 34 sagten, sie fühlten sich auf dem Campus unsicher, zwölf sagten, sie würden, wie Maytal Polontsky, ihre jüdische Identität verstecken.
Auch jüdische Studierende protestieren mit
In den USA und in Deutschland nehmen auch jüdische Studierende und Aktivisten an den Protesten teil. In New York engagieren sich Tausende linke Jüdinnen und Juden in der Pro-Palästina-Bewegung, prominente Jüdinnen und Juden wie Bernie Sanders oder die Journalistin Masha Gessen haben sich mit Gaza solidarisiert. In Berlin sind es dagegen vor allem einzelne linksradikale Jüdinnen und Juden, die sich seit Jahren lautstark an Protesten gegen Israel beteiligen.
In Deutschland seien zwar noch keine Dimensionen wie in den USA erreicht, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, in der vergangenen Woche der „Rheinischen Post“. Er beobachte jedoch „mit großer Sorge an den deutschen Hochschulen eine aggressive antiisraelische Stimmung, die auch antisemitisch motiviert ist“.
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeigt sich besorgt und fordert die zuständigen Wissenschaftsministerinnen und -minister auf, sich auf einen bundeseinheitlichen Präventionsplan zu verständigen. „Einheitliche Hausregeln, Strafantragsstellungen und Präventionsmaßnahmen müssen unverzüglich festgelegt sein“, sagte der GdP-Vorsitzende Jochen Kopelke dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Drohende Polizeieinsätze bergen das Risiko einer tiefgreifenden Spaltung innerhalb der Campusgemeinschaft und der Gesellschaft als Ganzes“, fügte er an.
An deutschen Unis werden Zeltlager errichtet
Während der Zenit der propalästinensischen Studierendenproteste und Campusbesetzungen in den USA zunächst überschritten scheint, dürften in Deutschland und Europa noch einige Protestaktionen bevorstehen.
An der Universität zu Köln gibt es bereits seit dem vergangenen Wochenende ein propalästinensisches Miniprotestcamp. Auch in Wien und an den britischen Eliteunis Oxford und Cambridge wurden in den letzten Tagen Zeltlager eingerichtet.
Und auch in Berlin geht es weiter: Auf dem Campus der Freien Universität Berlin starten einige Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten an diesem Dienstagmorgen ein Protestcamp. In den USA haben die Leitungen mehrerer Universitäten lange mit dem richtigen Umgang mit solchen Campusbesetzungen gerungen. Lassen sie die propalästinensischen Aktivisten, die sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung berufen, gewähren? Oder setzen sie ihr Hausrecht durch, um zu verhindern, dass sich unkontrollierbare Angsträume für jüdische Studierende entwickeln? Mehrere Universitäten ließen die Protestcamps schließlich von der Polizei räumen.
In Berlin fällt diese Entscheidung am Dienstag deutlich schneller. Schon kurz nach dem Beginn der Campusbesetzung verständigt die Freie Universität die Polizei und ordnet eine Räumung des Protestcamps an. „Diese Form des Protests ist nicht auf Dialog ausgerichtet“, sagt Universitätspräsident Günter Ziegler. „Jede Form von Boykott oder akademischem Boykott gegenüber Israel, wie hier gefordert, lehnt die Freie Universität entschieden ab.“ Eine Besetzung auf dem Gelände der Hochschule sei nicht akzeptabel. „Wir stehen für einen wissenschaftlichen Dialog zur Verfügung – aber nicht auf diese Weise“, stellt Ziegler klar.
Wenige Stunden später erklärt die Polizei die Protestveranstaltung offiziell für aufgelöst und beginnt damit, Demonstranten vom Campus zu führen. Am Nachmittag teilt die Berliner Polizei mit, dass alle Personen das Universitätsgelände freiwillig oder in Begleitung von Polizisten verlassen hätten. Vereinzelt nimmt die Polizei Personen wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung und des Hausfriedensbruchs fest.