Wo steht Nordrhein-Westfalen in der Corona-Krise? Zeigen die von der Landesregierung verordneten Maßnahmen Wirkung? Und wie geht es weiter?
Armin Laschet (CDU) spricht im Interview in der Staatskanzlei über ein Exit-Szenario für das Land, schlecht bezahlte Pflegekräfte und die stockende Debatte um den CDU-Vorsitz.
Außerdem erklärt der NRW-Ministerpräsident, warum er die Öffnung von kleineren Läden schon bald für denkbar hält.
Herr Laschet, wo stehen wir? Sind wir in der Corona-Krise schon über den Berg?Laschet: Das können wir derzeit nicht mit Gewissheit beurteilen. Deshalb unternehmen wir alles, um uns so vorzubereiten, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Bislang sind die Intensivbetten der Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen zu 60 Prozent ausgelastet. Wir sind dabei, die Kapazitäten weiter auszubauen. Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten haben sich verabredet, nach Ostern eine Lageeinschätzung vorzunehmen. Klar ist: Wir brauchen einen Fahrplan.
Eine neue Maßeinheit, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Verdopplungsrate der Infektionen. Ab welchem Wert können wir zuversichtlich sein, das Schlimmste überstanden zu haben?
Die Verdopplungsrate ist eine relevante Größe, aber es gibt auch noch andere Faktoren, die wir einbeziehen müssen. Neben den Gefahren für unsere Wirtschaft, die von einem weiteren Stillstand des öffentlichen Lebens ausgehen, müssen wir berücksichtigen, was die Kontaktverbote mit den Menschen machen. Es ist zu befürchten, dass es zu Kindeswohlgefährdungen kommt, nicht nur durch häusliche Gewalt, sondern einfach auch dadurch, dass Kitakinder und Schüler möglicherweise kein vernünftiges Mittagessen mehr bekommen.
Auch die Zahl der Suizide könnte zunehmen, warnen Fachleute. Aus diesen Gründen besteht der Expertenrat, den ich einberufen habe, nicht nur aus Virologen, sondern aus Vertretern unterschiedlichster Professionen. Da bringen sich unter anderem auch Vertreter der Wirtschaft, Soziologen, Psychologen und Ethiker mit ein.
Ist es vorstellbar, schrittweise vorzugehen und mit einigen Bereichen zu starten, anderen aber noch nicht?
Was die Kitas und Schulen angeht, brauchen wir optimalerweise eine bundeseinheitliche Regelung. Andere Problemstellungen können nach der jeweiligen Situation in den Regionen gelöst werden. Die Lage in den ländlichen Gebieten von Mecklenburg-Vorpommern ist eine andere als in Köln oder in München.
Direkt morgens wissen, was in Köln passiert
Jetzt für „Stadt mit K“ anmelden!
Was bringt der Tag? Was kann ich in Köln unternehmen? Wo sollte ich essen gehen? Oder soll ich vielleicht doch lieber ein Rezept nachkochen? Wie ist die aktuelle Corona-Lage in der Stadt? Und welche Geschichten sollte ich auf keinen Fall verpassen?
All das liefern wir Ihnen in unserem Newsletter „Stadt mit K“von Montag bis Freitag immer bis spätestens 7 Uhr bequem und kostenlos in ihr E-Mail-Postfach.
Als Newsletter-Abonnent erhalten Sie außerdem regelmäßig exklusive Informationen und können an interessanten Aktionen und Gewinnspielen teilnehmen.
Jetzt für „Stadt mit K“ anmelden und über Köln auf dem Laufenden bleiben!
Es gab in der Nato mal eine Strategie, die sich „flexible response“ nannte: Auch wir benötigen flexible Lösungsansätze für unterschiedliche Lagebilder statt einer Rasenmähermethode, die alles schließt. Wir müssen die unterschiedlichen Bereiche schrittweise wieder zurück in die Normalität führen. Dabei muss man Prioritäten setzen. Ich nenne das verantwortungsvolle Normalität.
Wie könnte ein solches Szenario für NRW aussehen?
Wir sehen doch, dass sich die meisten Bürger beim Einkaufen sehr verantwortungsbewusst verhalten. Das hat sich eingespielt. In den Bäckereien wird zum Beispiel der Mindestabstand zwischen den Kunden nach meiner Wahrnehmung fast überall eingehalten. Deswegen könnte eine Option sein, zunächst die kleinen Läden, in denen sich nicht viele Menschen gleichzeitig aufhalten, wieder zu öffnen. Auch für die Wiederöffnung der Gastronomie könnte ein Kriterium sein, wie gut der Schutz der Gäste und Mitarbeiter vor Ansteckung gewährleistet werden kann.
Sind denn Lockerungen ohne Schutzmaskenpflicht möglich?
Bund und Länder haben viele Millionen Schutzmasken bestellt, aber wir erleben natürlich weltweit eine riesengroße Nachfrage nach diesen Produkten. Auch in der heimischen Industrie haben Unternehmen ihre Produktion umgestellt, um Schutzausrüstung herzustellen. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass sich die Versorgungslage bei den Schutzmasken bald deutlich entspannt. Wir müssen auch langfristig von den mitunter fragwürdigen Machenschaften, die bei der Lieferung von Schutzmasken auf dem Weltmarkt um sich greifen, unabhängig werden. Ich begrüße es, wenn die Menschen Masken zum Schutz der anderen tragen, aber eine Pflicht lehne ich ab.
Sie haben den Virologen Hendrik Streeck mit der Durchführung einer Studie über die Ausbreitung des Virus in Heinsberg betraut. Die Ergebnisse sollen die Grundlage für Entscheidungen über Lockerungen bilden. Gibt es schon Erkenntnisse aus der Studie?
Der endgültige Abschluss dieser wissenschaftlichen Arbeit wird sicher noch dauern. Aber wir erhoffen uns bereits für das Wochenende erste Zwischenergebnisse. Wohl nirgendwo sonst als im Kreis Heinsberg lässt sich besser nachvollziehen, auf welche Weise sich das Virus tatsächlich verbreitet. Welche Rolle spielt zum Beispiel der Kontakt mit Oberflächen? Kann das Dunkelfeld der Infizierten erhellt werden? Wie gefährdet sind Kinder? Wie eng muss der Kontakt zwischen Personen sein, damit sich das Virus überträgt? Aus den Ergebnissen dieser Studie werden wir unsere Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen ziehen. Die Erkenntnisse dürften nicht nur für uns, sondern für ganz Deutschland wegweisend für den weiteren Umgang mit der Krise sein.
Professor Streeck gilt als Kritiker eines dauerhaften Kontaktverbots. Was bedeutet das für die Akzeptanz seiner Ergebnisse?
Die Ergebnisse der Feldstudie sind selbstverständlich wissenschaftlich abgesichert. Das Team von Professor Streeck möchte im weiteren Verlauf zum Beispiel herausfinden, wer bei der fraglichen Karnevalssitzung, die als Herd des Corona-Ausbruchs gilt, neben wem gesessen hat und welche Auswirkungen der konkrete Verlauf des Abends für den Einzelnen hatte. Uns alle hat die Lage in Heinsberg wegen der vielen Infektionen lange besonders besorgt.
Jetzt wollen wir uns diese besondere Lage zunutze machen und die Übertragungswege des Virus genau und repräsentativ nachvollziehen. Je mehr wir über das Virus wissen, umso besser können wir sachgerechte Entscheidungen treffen, um Menschenleben zu retten und zu schützen.
Sehen Sie sich in der Bekämpfung der Corona-Krise in allen Punkten auf einer Linie mit Angela Merkel?
Jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich die Bundeskanzlerin schätze. Es kommt regelmäßig vor, dass Politiker aus der gleichen Partei bei der Verfolgung von Lösungsansätzen unterschiedliche Akzente setzen. Meiner Meinung nach ist es nicht verfrüht, jetzt über weitere Szenarien und Maßstäbe hin zur Normalität nachzudenken – und darüber auch einen öffentlichen Diskurs zu führen. Die Bürger müssen wissen und wollen mitreden, wie es irgendwann weitergehen soll. Es steht viel auf dem Spiel: Wir müssen vermeiden, dass durch die aktuellen Auflagen Schäden entstehen, die möglicherweise noch schwerwiegender sind als die Infektionszahlen. Wir können den Zustand des Stillstands nicht über Monate fortsetzen.
Was halten Sie von der „Corona“-App?
Sie kann ein gutes Hilfsmittel sein, um die Verbreitung des Virus nachzuvollziehen und besondere Risikogruppen noch besser zu schützen. Damit ist sie auch ein Baustein für den Fahrplan raus aus dem Krisenmodus. Wie beim Tragen der Schutzmasken setze ich auch beim Gebrauch der App auf Freiwilligkeit.
Gehen Sie davon aus, dass die Alten jetzt noch viele Monate abgeschirmt werden müssen?
Für mich ist die Vorstellung schwer erträglich, dass zum Beispiel Eheleute, die 60 Jahre zusammengelebt haben, sich nicht sehen dürfen, wenn einer von beiden im Sterben liegt. Wir müssen in Ruhe überlegen, wie wir die Regelungen für den Besuch in Alten- und Pflegeheimen anpassen. Klar ist aber: Die schweren Risikogruppen müssen länger geschützt werden. Das ist hart, aber notwendig.
Thema Hilfen für die NRW-Wirtschaft: Es gibt bereits einen 25-Milliarden-Euro-Rettungsschirm. Aus mittelständischen und Familienunternehmen heißt es, die Hilfen reichen nicht aus. Ist ein zweites Rettungspaket vorstellbar?
Das werden wir beobachten. In Nordrhein-Westfalen ist es uns gelungen, innerhalb von wenigen Tagen über 300 000 Anträge von Unternehmen zu bearbeiten und Bewilligungsbescheide auszustellen. Wir haben alleine in der letzten Woche bereits über zwei Milliarden Euro an Soforthilfen ausbezahlt. Damit haben die meisten Antragsteller binnen kürzester Zeit das dringend benötigte Geld erhalten.
Ich weiß, dass das nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein ist. Aber es ist wichtig, dass die Wirtschaft schnell wieder selbst in Gang kommt. Wir können nicht Billionen für staatliche Schutzpakete ausgeben. Der Staat kann jetzt akut helfen, aber er ist nicht der bessere Unternehmer. Die Soziale Marktwirtschaft und nicht die Staatswirtschaft hilft uns aus der Krise.
Die Opposition in NRW fühlte sich vom Epidemiegesetz überfahren. Haben Sie die Einigungsbereitschaft überschätzt?
Schon in der Plenarberatung habe ich deutlich gemacht, dass es das Epidemiegesetz nur zusammen mit der Opposition geben wird. Jetzt kommt es darauf an, dass alle zusammenstehen. Wir müssen auf dem Höhepunkt der Krise handlungsfähig sein.
Im Gesetzentwurf fehlen Befristungen der Maßnahmen; ein weiterer Kritikpunkt der Gegner ist die Zwangsrekrutierung von medizinischem Personal. Sehen Sie eine Kompromisslinie?
In der Frage, eine zeitliche Befristung festzulegen oder für bestimmte Maßnahmen einen zusätzlichen Parlamentsvorbehalt im Gesetz zu verankern, sehe ich keine Probleme. In unserem Entwurf war bereits eine stärkere Rolle des Parlaments als in vielen anderen Bundesländern vorgesehen. Die Fraktionen werden die Anhörung der Experten jetzt sorgsam auswerten. Dann geht es darum, bei den geplanten Regelungen, die in der Kritik stehen, zu einer Einigung zu kommen. Ich gehe fest davon aus, dass das Gesetz in dieser Woche verabschiedet wird. Die Handlungsfähigkeit des Staates ist in dieser Lage elementar.
Die Diskussion um den CDU-Bundesvorsitz erscheint in diesen Tagen wie eine Debatte aus vergangener Zeit. Sehen Sie das auch so?
Im Moment überlagert die Pandemie alle anderen Themen. Ich gehe ins Bett mit Gedanken an Corona, und ich wache morgens damit auf. Alles, was nicht mit der Bewältigung der Krise zusammenhängt, ist für mich derzeit sekundär.
Sehen Sie sich und Gesundheitsminister Jens Spahn in der Union und in der Bevölkerung durch die Krise gestärkt?
Wir tun unsere Pflicht, erfüllen unsere Verantwortung im Amt. Wir tun alles dafür, auf fachlicher Basis die richtigen Entscheidungen zu treffen. Meinungsumfragen spielen dabei keine Rolle.
Entscheidet sich in der Corona-Krise, wer nächster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein wird?
Die Wahl ist im Herbst 2021. Über solche Fragen verbietet es sich, jetzt zu spekulieren.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder fordert für die Nach-Corona-Zeit ein bundesweites Konjunkturprogramm und Steuersenkungen für alle. Was halten Sie davon?
Wir müssen alles dafür tun, dass die Wirtschaft schnell wieder in Gang kommt, dass die Menschen wieder aus der Kurzarbeit kommen und wir zu unserer wirtschaftlichen Kraft zurückfinden. Was dafür die richtigen Mittel sein werden, werden wir gemeinsam abwägen.
Sollten die Pflegekräfte in Deutschland besser bezahlt werden?
Der Bund will jetzt eine Einmalzahlung leisten. Diese gönne ich den Beschäftigten von Herzen. Perspektivisch reicht das aber nicht aus, um den Leistungen der Menschen, die in der Pflege arbeiten, gerecht zu werden. Ich hoffe, dass die Tarifparteien sich auf eine deutlich bessere Bezahlung verständigen.
Die Corona-Krise zeigt, wie sehr die Gesellschaft auf diese Leistungsträger angewiesen ist. Die bisherigen Gehälter werden der hohen Verantwortung und der außergewöhnlichen Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Pflegeberufen nicht gerecht.
Es gibt bereits Stimmen, die fordern, die Kommunalwahlen in NRW im September zu verschieben. Wie sehen Sie diese Forderung – ist sie voreilig oder berechtigt?
Wahlen sind in einer Demokratie mit die höchsten Güter, die verschiebt man nicht mal eben leichtfertig. Bayern hat die Stichwahl als Briefwahl stattfinden lassen. Die Listenaufstellungen sind allerdings etwas zeitkritisch, weil diese bis Mitte Juli erfolgen müssen. Ich habe mich mit den Parteivorsitzenden darauf verständigt, dass wir eine gemeinsame Lösung finden wollen.
Herr Ministerpräsident, wie verbringen Sie Ostern?
Zu Hause. Es wird sicherlich für viele Menschen eine ganz außergewöhnliche Erfahrung, nicht zur Ostermesse in die Kirche oder ans Osterfeuer gehen zu können. Das fällt uns allen nicht leicht. Aber wir müssen Kontakte so gut es geht vermeiden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.
Der Osterurlaub ist für die Familien in NRW ins Wasser gefallen. Würden Sie für den Sommer eine Reise buchen?
Wie viele Familien im Land haben auch wir unseren Sommerurlaub am Bodensee schon vor der Krise gebucht und hoffen natürlich, ihn antreten zu können. Wann mit einer Normalisierung auf dem Tourismussektor zu rechnen ist, kann allerdings derzeit niemand seriös vorhersagen. Große Fernreisen in die Welt würde ich derzeit nicht planen.