AboAbonnieren

Kommentar

Kommentar zur Energie
Der Atomausstieg ist richtig – kommt aber zum falschen Zeitpunkt

Ein Kommentar von
Lesezeit 4 Minuten

Tschernobyl, Fukushima und die Drohkulisse in Saporischschja zeigen die atomare Gefahr. Ein politisches Nachjustieren wäre dennoch richtig.

Für bedeutsame Momente braucht es ein Symbol. Bild des Tages an diesem 15. April 2023 ist ein roter Knopf. Wird er bedient, starten keine todbringenden Atomraketen – eines der Horrorszenarien des Kalten Krieges. Vielmehr beendet dieser Druck auf den roten Knopf den Betrieb in den drei noch verbliebenen deutschen Atomkraftwerken. Eine potenziell todbringende Technologie kommt kontrolliert und auf der Grundlage einer Gesetzgebung mit breiter parlamentarischer Zustimmung an ihr Ende.

Das ist tatsächlich ein historischer Moment. Nie hat die deutsche Gesellschaft über eine bestimmte Art der Energiegewinnung so erbittert und so lange gestritten wie über die friedliche Nutzung der Kernenergie. Die Anti-Atomkraft-Bewegung hat eine ganze Generation geprägt. Sie war Entstehungsimpuls und ist Gründungsmythos einer neuen Partei, der Grünen, die heute im Bund und in vielen Ländern Regierungsverantwortung trägt.

Atomausstieg: Spätestens seit Tschernobyl ist das Super-GAU-Risiko real

Spätestens seit Tschernobyl 1986 weiß die Welt, dass das von den Atomkraft-Gegnern beschworene Risiko eines Super-GAU alles andere als bloße Hysterie ist. Nach den Terrorangriffen auf das Word Trade Center 2001 ging die berechtigte Angst um, Terroristen könnten Flugzeuge auch in Atomanlagen lenken und sie zur Explosion bringen. 2011 dann rüttelte die Atom-Katastrophe im japanischen Fukushima auch diejenigen auf, die Reaktoren modernen Typs für sicher gehalten hatten. Und wie ein vierter apokalyptischer Reiter gesellte sich 2022 der Beschuss des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja zu den realistischen Bedrohungen, die von Atommeilern ausgehen.

Krieg in der Ukraine: Ein russischer Soldat steht im Mai 2022 am ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja.

Krieg in der Ukraine: Ein russischer Soldat steht im Mai 2022 am ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja.

Ganz zu schweigen von der ungelösten Frage der Endlagerung. Es gehört zum kleinen ethischen Einmaleins, dass der Mensch die Folgen seines Handelns nicht späteren Generationen aufbürden darf. In den Diskussionen über die Staatsverschuldung wird dieser Grundsatz gern hochgehalten. Dabei ist die Hypothek nirgends so offensichtlich wie bei der Nutzung der Kernkraft und dem radioaktiven Müll, der noch nach Zehntausenden von Jahren hochgiftig ist.

Der Ukraine-Krieg ist auch ein Energie-Krieg

All das, so scheint es, macht den historischen 15. April 2023 zu einem guten Tag für unser Land und seine Menschen. Aber das Ende der Atomkraft in Deutschland kommt zum falschen Zeitpunkt. Und gerade die Grünen, ihrem Selbstverständnis nach „die“ Schutzmacht von Natur und Umwelt, sind in gewaltigen Erklärungsnöten. Die schönen Pläne, den Wegfall des durch Atomkraft erzeugten Stroms mit Hilfe von Gaskraftwerken als „Brückentechnologie“ aufzufangen, sind durch den Angriffskrieg Russlands, der auch ein Energiekrieg gegen den Westen ist, Makulatur geworden.

Carsten  Fiedler

Carsten Fiedler

Carsten Fiedler, Jahrgang 1969, ist Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Geschäftsführender Chefredakteur des Newsrooms der Kölner Stadt-Anzeiger Medien. Begonnen hat Fiedlers Karriere in der...

mehr

Jetzt müssen Kohlekraftwerke mit dem Segen grüner Minister den benötigten Strom liefern – obwohl jeder weiß, dass Kohle der Klimakiller Nummer eins ist. Mit – aufs Jahr gerechnet - 15 Millionen Tonnen Kohlendioxid zusätzlich belastet die Abschaltung der letzten drei deutschen Meiler die nationale Klimabilanz. Das ist fatal in einer Phase, in der die ambitionierten Schutzziele zur Abmilderung der Erderwärmung ohnehin mehr als in Frage stehen.

Kein Wunder, dass das gegnerische politische Lager die Grünen feixend auf solche Ungereimtheiten und Aporien festnagelt. CSU-Chef Markus Söder etwa wäre nicht der politische Spieler, der er ist, hätte er für den symbolträchtigen 15. April nicht auch das passende große – um nicht zu sagen: großspurige – Wort parat. Das Aus für die Atomkraft in Deutschland sei eine „Sünde“, hat der bayerische Ministerpräsident vor der Kulisse des heimischen Meilers Isar 2 gesagt.

Nein. Eine Sünde ist es das nicht. Im Gegenteil: Mit der Inkaufnahme der atomaren Risiken hat sich die Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg an den künftigen Generationen versündigt. Aber einen Fehler darf man es nennen, dass die Ampel-Koalition eine Laufzeitverlängerung von Isar 2, Neckarwestheim und Emsland für einen überschaubaren Zeitraum nicht ernsthaft erwogen hat.

Der Einwand der grünen Umweltministerin Steffi Lemke, ein solcher Schritt wäre mit dem Atomausstiegsgesetz unvereinbar und mithin rechtswidrig, ist ein geistloser und unpolitischer Legalismus. Was haben Regierung und Parlament in der Zeit der Corona-Pandemie oder seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, nicht alles an Gesetzen verändert und neu verabschiedet? Und da sollte ausgerechnet in der so entscheidenden Frage der Energiesicherheit alles bleiben müssen, wie einmal beschlossen? Absurd!

Mit solchen Argumenten nähren Politiker den Verdacht, dass den Atomausstieg in Deutschland nicht nur Atem der Geschichte umweht, sondern auch der Hauch der Ideologie. Und das bekommt diesem historischen Datum nicht gut.