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Auf allen Vieren zur ToiletteAli Tuncer nahm 83 Kilo ab

Lesezeit 5 Minuten

Ali Tuncer (l.) fing mit 15 Jahren an, wahllos Essen in sich hineinzustopfen. Seine Eltern hatten sich getrennt, Essen war für ihn Trost. Heute trainiert er fettleibige Kinder.

  1. Die Anzahl fettleibiger Kinder und Jugendlicher wird immer mehr zum gewaltigen Problem. Experten sprechen bereits von einer „globalen Epidemie”.
  2. Ali Tuncer war früher selber so dick, dass er nur noch auf allen Vieren zur Toilette kriechen konnte. Bei der TV-Show „The Biggest Looser” nahm er 83 Kilo ab.
  3. Heute trainiert er fettleibige Kinder bei ihrem Kampf gegen das Übergewicht – und macht damit vielen Menschen Mut.

Bonn – Mit schwerem Atem laufen die Kinder durch die Turnhalle. Von Linie zu Linie, dann Pratzentraining. 20 Schläge, laufen, Kniebeugen, Pause. Laufen, Schlagen, Hampelmann, Pause. Man kann ihn fast hören, den inneren Schweinehund, der in den Körpern zetert. Die Schritte werden schwerer, die Hände wollen nicht mehr hoch. Aber alle machen weiter. „Gut so, nicht aufhören, gleich habt ihr es geschafft“, ruft Trainer Ali Tuncer. Aus dem Handy tönt der Rocky-Klassiker „Eye of the Tiger“.

Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, die sich jeden Montag in der Sporthalle der Bonner St. Hedwigschule versammelt. Alle neun Kinder, zwischen acht und zwölf Jahre alt, sind fettleibig. Manche von ihnen wiegen schon jetzt 85 Kilogramm. Sie sind Teilnehmer des Kurses „Durch dick und dünn“, den die Uniklinik Bonn 2014 ins Leben gerufen hat. „Sie sind hier, weil sie ihr Leben ändern wollen“, sagt Tuncer. „Und weil es für viele die vielleicht letzte Chance ist, ihr Gewicht zu verlieren.“

Adipositas bei Kindern ist in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten zu einem gewaltigen Problem erwachsen. Laut „Kiggs-Studie“ des Robert-Koch-Instituts sind mittlerweile 15,4 Prozent der Kinder zwischen drei und 17 Jahren in Deutschland übergewichtig, 5,9 Prozent sind fettleibig. Zwar sind die Zahlen in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr gestiegen, bewegen sich laut Studie aber auf einem konstant hohen Niveau. „Es ist eine globale Epidemie, die uns überrollt hat“, sagt Michaela Plamper, die das Bonner Projekt medizinisch begleitet.

Die Gründe für extremes Übergewicht: Eine Kombination aus hochkalorischer Ernährung und zu wenig Bewegung. Nicht selten spiele auch ein schlechtes Vorbild innerhalb der Familie eine Rolle. „In fast allen Fällen ist auch mindestens ein Elternteil übergewichtig“, sagt Plamper. „Auch sie müssen ihr Essverhalten ändern.“ Etwa 70 Prozent der betroffenen Familien seien bildungsfern, oft mit Migrationshintergrund. Aber Adipositas ist keineswegs nur ein Unterschichten-Problem. Immerhin bis zu 30 Prozent der Kinder, die hier an ihrem Gewicht arbeiten, stammten aus bildungshohen Schichten.

Der „Endgegner“ wartet. Nach dem Training geht es für alle Kinder auf die Waage.

In Bonn versucht man es daher mit einem ganzheitlichen Ansatz. „Das Training allein reicht nicht aus“, sagt Eva Haffner, Psychologin des Projekts. „Wer zu uns kommt, hat meist schon sehr viel hinter sich.“ Entscheidend für die Teilnahme ist das Erstgespräch mit Eltern und Kindern. „Die Kinder sind seelisch sehr stark belastet, nicht nur wegen der Adipositas.“ Bei vielen sei ein Zusammenbruch der sozialen und familiären Struktur zu beobachten: Trennung der Eltern, Umzug, Schulwechsel, Ausgrenzung, Mobbing. Der seelische Schmerz werde dann mit Essen gelindert, vor allem mit zucker- und fetthaltigen Lebensmitteln, Glücksspender für den Augenblick.

Ali Tuncer kennt diese Probleme. Der Trainer der Kindergruppe hat all das selbst erlebt, in extremem Ausmaß. Als er 15 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden und Tuncer fing an zu essen. Als er kurz darauf in die Ausbildung ging, vertilgte er unglaubliche Mengen: Döner, Pizza, Burger, Nudeln, ganze Kuchen, Süßigkeiten und Chips von der Tankstelle. Jeden Tag bis zu 15.000 Kalorien, 1000 Euro im Monat. Dabei habe sich seine Mutter große Mühe gegeben. Abends habe sie Gemüse-Gerichte gekocht und vor seine Zimmertür gestellt. „Das habe ich gar nicht angerührt. Es hat mir einfach nichts gegeben.“

Ali Tuncer hat früher bis zu 15.000 Kalorien pro Tag vertilgt. 1000 Euro im Monat gingen dabei drauf.

Mit 31 Jahren wog Tuncer 246 Kilogramm bei einer Größe von 1,90 Meter. Seine Gelenke konnten die Last nicht mehr tragen, auf allen vieren sei er zur Toilette gekrochen. „Die Feder ist gebrochen, wie bei einem Lkw, der zu viel geladen hat“, sagt Tuncer. 2013 bewarb er sich bei der Abnehm-Show „The Biggest Loser“ und speckte durch Training und radikale Diät 83 Kilo ab. „Es war meine Rettung, auch wenn ich die Art und Weise, wie diese Sendung die Kandidaten zum Abnehmen brachte, heute eher kritisch sehe.“

Durch seine Geschichte habe er bei den Kindern einen Bonus, sagt Tuncer, der seit drei Jahren als Gasttrainer regelmäßig aus Ahrweiler nach Bonn kommt. Der 37-Jährige prangert die Zuckerindustrie an, die ihre zahllosen Produkte teils zu Schleuderpreisen auf den Markt werfe und kaum Aufklärung betreibe. Und er kritisiert den Druck, den sogenannte Influencer über die sozialen Medien ausübten. „Auf Instagram sieht man überall Muskeln, Sixpacks und durchgestylte Körper. Das setzt die Kinder zusätzlich unter Stress. Sie denken nicht daran, dass diese Leute jeden Tag mehrere Stunden trainieren.“

Die Kurse in Bonn sind auf ein Schuljahr angelegt, dennoch halten nicht alle bis zum Ende durch. „Der Weg, den wir gehen, ist anspruchsvoll“, sagt Psychologin Haffner. „Manche glauben, wir sind die Uniklinik, wir machen die Kinder schon wieder gesund. Aber es gibt keine Pille dagegen. Es ist ein hartes Stück Arbeit und das ist oftmals desillusionierend.“

Eltern und Kinder müssen Buch führen über das tägliche Essen. Neben dem Sport gibt es Einkauftrainings, Ernährungsberatung, gemeinsames Tischdecken und Kochen. Manche Familien würde das überfordern, da im Lauf der Zeit das Ritual gemeinsamer Mahlzeiten verloren gegangen sei. Viele Schüler würden ohne Frühstück das Haus verlassen, dann seien sie den ganzen Tag in der Schule. Am Abend sei das Öffnen der Dose Ravioli angenehmer, als noch Gemüse zu schnibbeln. Gegessen werde dann oft auf dem Sofa vor dem Fernseher. „Es kamen schon Familien zu uns, die hatten zu Hause nicht mal mehr einen Esstisch“, sagt Haffner.

In den Kursen gehe es darum, einfache Dinge wiederzubeleben. Bewusstes Essen, gemeinsame Mahlzeiten, Bewegung, ein Gefühl für den eigenen Körper entwickeln, lernen, wie es ist, auch mal Hunger zu haben. Auch die Eltern müssten sich überwinden, häufiger „Nein“ zu sagen, wenn das Kind nach Süßigkeiten oder Limo ruft. Verantwortung sieht Haffner außerdem bei den Schulen: „Ein Fach wie Gesundheitslehre wäre längst angebracht“, sagt sie. „Ich bin oft schockiert darüber, wie wenig den Kindern über gesunde Ernährung vermittelt wird.“

In der Bonner Turnhalle geht der Kurs zu Ende. Die Kinder sind erschöpft, aber zufrieden. Jetzt wartet noch der Endgegner. So nennen die Kinder die Waage, die in der Ecke steht. Unbestechlich zählt sie jedes Kilogramm, zeigt, ob sich die ganzen Mühen auch in Zahlen niederschlagen. „Vielen Kindern erscheint das Fett wie ein übermächtiger Feind“, sagt Tuncer. „Aber auch dieser Gegner ist besiegbar.“