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Bischof Franz-Josef Overbeck im Interview„Ich freue mich über jeden, der kommt“

Lesezeit 4 Minuten

„Ruhrbischof“ Bischof Franz-Josef Overbeck

Herr Bischof, Ihr Bistum Essen ist in einer Studie zum Kirchenaustritt der Frage nachgegangen, wie die Kirche sich verändern sollte. Was ist für Sie das wichtigste Ergebnis?

Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die Formen der Verbundenheit oder des Zugehörigkeitsgefühls zur Kirche unendlich viel pluraler geworden sind, als wir in der Kirchenleitung uns das je gedacht hätten. Darauf müssen wir uns einstellen.

Wie?

Indem wir von der Freiheit nicht nur reden, sondern kirchliche Lebensräume schaffen, die das auch widerspiegeln. Andernfalls werden uns noch mehr Menschen den Rücken kehren – in aller Freiheit.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir bieten im Bistum Essen neuerdings Segnungsgottesdienste für Neugeborene an. Selbstverständlich begründet auch weiterhin nur die Taufe die Mitgliedschaft in der Kirche, die wir uns wünschen. Aber unser Angebot einer Segnungsfeier nimmt jene ernst, die unsere Nähe suchen und den Segen Gottes für ihr Kind erbitten.

Meint das der Papst, wenn er sagt, dass die Kirche „an die Ränder gehen“ müsse?

Das Bild vom „Rand“ setzt voraus, dass es eine Mitte gibt, ein Zentrum – und dementsprechend eine nach Nähe oder Ferne hierzu gestaffelte Zugehörigkeit. Diese Sicht passt aber nicht mehr. Wenn der Papst im Plural von „Rändern“ spricht, wird er damit der wachsenden Pluralität in der Kirche eher gerecht. Vielfalt führt von sich aus näher an die Menschen und ermöglicht neue Kontakte. Die allerdings müssen auch wahrgenommen werden.

Aber was ist dann Ihre Minimalanforderung an „echte“ Christen?

Das ist zunächst und vor allem das Bekenntnis zu Jesus Christus als Sohn Gottes und Erlöser der Welt, sodann der Empfang der Taufe. In weiteren Schritten kommen dann noch Firmung und Eucharistie hinzu, sowie die Bereitschaft, in der Gemeinschaft der Kirche den Glauben zu bezeugen. Einfacher gesagt: nicht bloß einen selbst gebastelten Glauben zu leben. Jenseits dieser ganz wenigen Essentials hat es in 2000 Jahren Kirchengeschichte eine solche Vielfalt an Vorstellungen gegeben, was zu einem guten Christen gehöre, dass wir mit Pflicht- und Leistungskatalogen sehr, sehr vorsichtig sein und sie schon gar nicht primär moralisch füllen sollten.

Zumal ja die allermeisten ihrer Mitglieder nur kaum Berührungspunkte mit der Institution Kirche haben, die ihnen Vorschriften machen könnte.

Wir haben im Bistum Essen sonntags einen Kirchenbesuch von acht Prozent. Wir sollten es sehr zu schätzen wissen, dass sich mehr als 90 Prozent der Essener Katholiken zur Kirche gehörig fühlen oder sie zumindest finanziell unterstützen und fördern, obwohl sie sonntags in der Regel nicht zum Gottesdienst kommen und unsere Dienstleistungen höchstens punktuell in Anspruch nehmen.

Aber bedauern Sie das nicht doch?

Über diese Phase bin ich längst hinaus. Ich lade herzlich ein und freue mich über jeden, der kommt. Was mich allerdings schon beschäftigt, ist die Frage, welche Christen wir in der nächsten und übernächsten Generation haben werden, die sich in der Kirche engagieren und ihr verlässlich ein Gesicht geben. Denn machen wir uns nichts vor: Diese Aktiven brauchen wir schon. Ich hoffe, es gelingt uns, sie in genügender Zahl zu finden und gleichzeitig attraktiv für Sympathisanten zu sein, wo sie auch herkommen und wo immer sie sonst stehen. Die immer weiter sinkende Zahl von Priestern führt unweigerlich zu neuen Formen kirchlichen Lebens. Wir sprechen heute noch von „Gemeinden“ und haben dabei das Modell einer Pfarrei auf einem bestimmten Territorium im Kopf. Aber dabei wird es kaum bleiben.

Was stellen Sie sich stattdessen vor?

Ich nenne es einmal „Kernorte des Glaubens“, eingebettet in große Territorialpfarreien, wo sich dann auch die Leitungsfrage noch einmal ganz anders stellen wird. Sie nur von den Priestern her zu beantworten, wird nicht möglich sein.

Essen hat als erstes Bistum in großem Stil Kirchen geschlossen und Pfarreien fusioniert. Vor weiterem Schwund bewahrt hat es Sie nicht. Verstehen Sie, wenn andere Bischöfe vor Essener Verhältnissen warnen?

In einem Ballungsraum wie dem Ruhrgebiet lässt sich sehr gut studieren und erproben, wie das Leben in Pluralität und Freiheit heute und in Zukunft aussieht. Wenn wir als Kirche möchten, dass Menschen sich in Freiheit an uns binden, müssen wir noch sehr viel pluralitätsfähiger werden, als wir es heute sind. Deswegen kann ich nur dazu raten, unter den „Essener Verhältnissen“ nicht eine Art ansteckende Krankheit zu verstehen, sondern eine Vorwegnahme dessen, worauf sich die Kirche in Deutschland und in ganz vielen Teilen Europas insgesamt einstellen muss – oder besser: spirituell und institutionell einstellen darf.