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Blutendes Ohr, Faust gen HimmelJetzt mutiert Trump endgültig zum Märtyrer

Lesezeit 5 Minuten
Der republikanische Präsidentschaftsbewerber und ehemalige Präsident Donald Trump wird bei einer Wahlkampfveranstaltung in Butler, Pennsylvania, von Agenten des US-Geheimdienstes Secret Service umringt.

Der republikanische Präsidentschaftsbewerber und ehemalige Präsident Donald Trump wird bei einer Wahlkampfveranstaltung in Butler, Pennsylvania, von Agenten des US-Geheimdienstes Secret Service umringt.

Präsident Joe Biden verurteilt die schockierende Tat entschieden. Das hindert die Republikaner nicht daran, die Szene politisch auszuschlachten.

Zweieinhalb Stunden nach dem Moment, der das aufgewühlte Land endgültig an den Rand der Explosion bringt, meldet sich Donald Trump endlich auf seiner Plattform Truth Social zu Wort. „Ich wurde von einer Kugel getroffen, die den oberen Teil meines rechten Ohrs durchschlug“, berichtet der Ex-Präsident. Es habe viel geblutet. Ansonsten aber, versichert seine Kampagne, gehe es dem 78-Jährigen gut.

Wenigstens das. Der mutmaßliche Attentäter hat sein Ziel nicht erreicht. Der Nominierungsparteitag der Republikaner, bei dem Trump am Donnerstag offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gewählt werden dürfte, soll wie geplant stattfinden. Aber ansonsten, das ahnt man, wird in dem ohnehin schon aberwitzigen Kampf um das Weiße Haus nach diesem Samstagabend nichts mehr so sein wie zuvor.

Es war 18.15 Uhr in Butler County, einem tief konservativen Landstrich nördlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania, als Amerikas Trauma eines gewaltsamen Anschlags auf einen führenden Politiker plötzlich real wurde. Trump hatte gerade eine Wahlkundgebung unter freiem Himmel begonnen. Es sollte die letzte vor dem am Montag beginnenden Parteitag in Milwaukee sein.

Blut am rechten Ohr des Ex-Präsidenten

Auf Aufnahmen der Szene hört man plötzlich drei Knallgeräusche, die aus einer Waffe oder von einem Feuerwerk herrühren könnten. Auch Augenzeugen waren sich zunächst nicht sicher. Dann aber fasst sich der Ex-Präsident ans rechte Ohr und duckt sich sofort hinter das kugelsichere Rednerpult. Derweil hört man eine Reihe weiterer Knallgeräusche, während bewaffnete Mitarbeiter des Secret Service blitzschnell Trump abschirmen.

Kurz darauf ist klar: Es waren Schüsse. Man sieht, wie Trump am Ohr blutet. Nach Angaben der Personenschützer, die auch ehemalige Präsidenten rund um die Uhr begleiten, stammte die erste Salve aus dem halbautomatischen AR-15-Gewehr eines Schützens, der offenbar auf einem Dach außerhalb des abgesperrten Kundgebungsgeländes gestanden hatte. Ein Zuschauer wurde getötet, zwei weitere schwer verletzt. Der mutmaßliche Attentäter wurde von einem Scharfschützen getötet.

Bei dem Schützen soll es sich laut FBI um den 20 Jahre alten Thomas Matthew C. aus Bethel Park im Staat Pennsylvania, teilte die Bundespolizei in der Nacht zu Sonntag (Ortszeit) mit.

Kämpferisch reckt Trump seine geballte Faust in die Luft

Trump wirkt zunächst verständlich mitgenommen, als ihn vier Personenschützer aufrichten. „Lasst mich meine Schuhe anziehen“, hört man ihn in Filmaufnahmen der Szene sagen. Doch sehr schnell findet der medienbewusste Politiker seine Fassung zurück. „Wartet, wartet!“, ermahnt er die Secret-Service-Agenten, die ihn eilig von der Bühne schieben wollen. Kämpferisch reckt er mehrfach die geballte rechte Faust in die Kameras. Seinen Anhängern ruft er zu: „Kämpft! Kämpft!“

Millionen US-Bürger und -Bürgerinnen verfolgen diese schockierenden Bilder live im Fernsehen. In normalen Zeiten wären sie für eine Nation vielleicht Anlass, erschrocken innezuhalten, politische Streitereien beiseitezuschieben und zusammenzukommen. Doch in dem vergifteten Klima der bis zum Anschlag polarisierten amerikanischen Gesellschaft scheinen sie die wahnwitzige Spirale des Hasses nur weiter anzutreiben.

Republikaner machen Bidens Rhetorik für versuchten Mord verantwortlich

Keine halbe Stunde nach dem dramatischen Vorfall postet der republikanische Kongressabgeordnete Mike Collins bei X: „Joe Biden hat den Auftrag gegeben!“ Der Hinterbänkler aus Georgia bekommt bald Gesellschaft. „Die Demokraten wollten, dass das passiert“, behauptet die rechtsradikale Abgeordnete Marjorie Taylor Greene.

Und Ex-Botschafter Richard Grenell, der in einer Trump-Regierung gerne Außenminister werden möchte und deshalb in den Onlinemedien immer die schamlosesten Kommentare absondert, macht Präsident Joe Biden direkt für die Tat verantwortlich. Er zitiert dessen eindeutig metaphorische Aufforderung an die Demokraten, ihre internen Personaldebatten zu beenden und stattdessen den Herausforderer Trump „ins Visier“ zu nehmen und fügt hinzu: „Fünf Tage später ist jemand Bidens Rat gefolgt.“

Lästern über ein Attentatsopfer

Zu diesem Zeitpunkt ist nichts über das Motiv des Attentäters bekannt. Es hilft auch nichts, dass führende Demokraten früh unmissverständlich den Angriff verurteilen – ganz anders übrigens als Trump, der sich seinerzeit nach der Hammerattacke auf den Ehemann der Ober-Demokratin Nancy Pelosi über das Opfer lustig machte und bei seinen Kundgebungen regelmäßig den rechten Mob der Kapitolstürmer, die seinen damaligen Stellvertreter Mike Pence aufhängen wollten, als „politische Gefangene“ verklärt.

In kürzester Zeit wird der Vorfall, bei dem immerhin ein Mensch ums Leben kam, in allen Ecken des Internets auf übelste Weise politisch instrumentalisiert.

Biden selber befindet sich in Delaware in der Kirche, als sich die Bluttat ereignet. Um kurz nach 20 Uhr tritt er im blauen Sakko mit offenem Hemdkragen vor die Kameras. Er habe versucht, Trump telefonisch zu erreichen und werde das weiter tun, berichtet er. Entschieden verurteilt er das Geschehene: „Es gibt keinen Platz in Amerika für diese Art von Gewalt. Das ist krank. Das ist krank“, sagt der Präsident: „Jeder muss das verurteilen.“ Wenig später gelingt ihm die Kontaktaufnahme mit seinem politischen Gegner und er spricht mit ihm am Telefon.

Musk: „volle Wahlempfehlung“ für Trump

Doch das alles stoppt den Wahnsinn nicht. In den Köpfen der rechten Verschwörungspropagandisten ist Biden ein ruchloser Verbrecher. Der verurteilte Straftäter Trump aber mutiert endgültig zum Märtyrer und übermenschlichen Helden.

„Sie versuchen, ihn ins Gefängnis zu werfen. Sie versuchen, ihn zu töten. Es wird nicht funktionieren. Er ist unbezwingbar“, sondert der texanische Gouverneur Greg Abbott ernsthaft ab. Und Tesla-Eigner Elon Musk, der schon lange mit Trump sympathisiert, gibt 30 Minuten nach der Tat auf seinem Kurznachrichtendienst X eine „volle Wahlempfehlung“ für den Republikaner ab. Zu seinem Post setzt Musk einen Screenshot der Anschlagsszene auf der Bühne.

Biden-Wahlkampfkampagne liegt auf Eis

Man braucht keine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass das Bild des blutenden Präsidentschaftskandidaten mit der hochgereckten Faust und einer US-Flagge im Hintergrund zum ikonografischen Werbemotiv von Trump im Wahlkampf wird. „Er wird niemals aufhören, für die Rettung Amerikas zu kämpfen“, verkündet sein Sohn Donald Junior.

Derweil haben die Demokraten, wie man das bei nationalen Tragödien in früheren Zeiten einmal tat, ihre Werbekampagne sofort gestoppt. Eigentlich wollten sie nach Wochen der Selbstbeschäftigung nun massiv auf die Gefahr hinweisen, die von Trump für die Demokratie ausgeht und den Möchtegerndiktator härter angehen.

Das können sie nun zumindest vorerst vergessen. In seiner kurzen Fernsehansprache am Abend nennt Joe Biden seinen Herausforderer zweimal beinahe freundschaftlich beim Vornamen: Donald.