Israel steht vor einer höchst umstrittenen Offensive in Rafah. Jan Wynands, als Chirurg an der Uniklinik Bonn, versorgte dort Kriegsopfer.
Bonner Arzt über seinen Einsatz in Rafah„Am radikalsten bleiben die Geschichten der Kinder im Kopf“
Während seiner drei Wochen in Gaza begann für Jan Wynands fast jeder Tag gleich. Morgens um halb sieben stand er von der Matratze im Korridor der Schwesternschule auf, wo er mit acht weiteren Menschen schlief. Räume mit Fenstern mieden sie, aus Sorge vor Verletzungen durch splitterndes Glas. Er aß ein paar Kekse, dann ging er zur Frühbesprechung im Krankenhaus. „Danach haben wir eigentlich von halb neun, neun Uhr bis 21 Uhr durchoperiert“, sagt Wynands, der eigentlich als plastischer Chirurg in der Uniklinik Bonn arbeitet.
Einer der letzten Zufluchtsorte in Rafah
Im Februar und März war Jan Wynands für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) im „European Gaza Hospital“ in Rafah im Einsatz. Es ist eines der letzten Krankenhäuser, in denen Menschen mit Explosionsverletzungen auf eine Behandlung hoffen können und einer der letzten Zufluchtsorte der dort lebenden Palästinenser.
Schon vor dem 7. Oktober 2023 war Wynands dreimal mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Gaza. Seine erste Reise in ein Kriegsgebiet trat er vor fast zehn Jahren mit dem IKRK an, erzählt Wynands, er fuhr in den Südsudan, wo die Dinka gegen die Nuer kämpften. Seither machte er die Einsätze in Krisengebieten bei jedem neuen Job in Deutschland zur Bedingung. Er versorgte Patienten in Somalia, Afghanistan, Mali und Pakistan, einmal koordinierte er für ein halbes Jahr die rekonstruktive Chirurgie in Jordanien, zu der Menschen mit Kriegsverletzungen aus dem Jemen, Irak, Syrien und Gaza flohen. „In Kriegen leiden häufig die sehr vulnerablen Gruppen am meisten“, sagt Wynands. „Ich finde: Wenn man die Möglichkeit hat, auch nur im Kleinen etwas zu verändern, dann sollte man es tun.“
Nahrung in Gaza ist knapp
Vor seinem letzten Einsatz in Gaza zögerte er trotzdem. In den meisten Gebieten konnte man das Risiko für medizinisches Personal zwar nicht aus der Welt schaffen, aber minimieren. In Gaza war das deutlich schwieriger.
Nach langer Planung und vielen Absprachen mit seinem vierjährigen Sohn und dessen Mutter brach Wynands Ende Februar auf. Über Kairo reiste er in das Übergangsgebiet zum Gazastreifen, nach ein paar Tagen Verzögerung an der Grenze durfte er schließlich einreisen. Rafah war damals eine der wenigen Städte, deren Infrastruktur noch zum größten Teil erhalten war, in sich der nur vereinzelt Lücken erstreckten, wo früher ein Haus stand.
In den drei Wochen lebte er hauptsächlich von Nudelsuppe, Keksen und Thunfisch, sagt Wynands, an guten Tagen ergänzt mit einer Zitrone und Aubergine vom Markt. Nahrung wird in Gaza mit den voranschreitenden Kriegsmonaten immer knapper. Nachts wachte er häufig von Detonationen auf, von Bomben, die in etwas Entfernung fielen. Angst machten die Geräusche ihm nicht. Irgendwann, sagt Wynands, hören sich die Einschläge an wie Donnergrollen.
Siebenjähriger Junge erblindete nach Schrapnell-Verletzung
Die meisten Verletzungen, die der Chirurg behandelte, waren Knochenbrücke, Verbrennungen und Zerreißungen, verursacht durch Detonationen oder Schrapnelle. „Am radikalsten bleiben einem natürlich die Geschichten der Kinder im Kopf“, sagt Wynands. Zum Beispiel die des zweijährigen Kindes, das er und ein Kollege in der Notaufnahme schweren Verletzung im Gesicht und am Schädel und einer Fraktur des Unterkiefers entdeckten. Er hielt das weinende Mädchen im Arm, versuchte es zu trösten, bevor sie es in den OP-Saal schoben. In einer dreistündigen Operation schafften sie es, die Gesichtshälfte des Kindes wiederherzustellen. „Während meines Aufenthalts konnte ich noch die Fäden entfernen“, sagt Wynands. „Das kleine Mädchen und seine Eltern waren so glücklich – das hat auch mich sehr glücklich gemacht.“
Noch am selben Tag operierte der Chirurg auch Yassid, sieben Jahre alt, dem in der Neujahrsnacht ein mandarinengroßes Schrapnell in die rechte Kopfhälfte eingedrungen und das rechte Auge zerfetzt hatte. Auch der linke Sehnerv wurde stark beschädigt – der Junge erblindete. Yassid kam mit seinem Vater nach Rafah, nachdem der Vater sein Kind mit einem Eselskarren aus Gaza-Stadt gezogen hat. Sie sind die einzigen Überlebenden einer achtköpfigen Familie. „Der Vater hatte eine wunderbar sanfte Art an sich, wie er mit seinem Kind auf der Station spielte“, sagt Wynands. „Dieser Mann hatte keine Zeit zum Trauern. Diese Freundlichkeit, die er trotz allem noch immer ausstrahlte, hat mich sehr bewegt.“
Kernteam bleibt vermutlich auch bei Offensive im Krankenhaus
In den meisten Kriegsgebieten operierte Wynands nicht nur, sondern bildete auch Ärzte in dem Feld der plastischen-rekonstruktive Chirurgie weiter – auch, um Amputationen, wenn möglich, zu verhindern. So auch in Rafah: Dort operierte Wynands Seite an Seite mit Haytham Abu Sulttan, einem jungen Arzt Anfang 30, der seit Kriegsbeginn nahezu durchgehend im OP-Saal stand. Währenddessen habe er ihm ein paar Verfahren der plastischen-rekonstruktiven Chirurgie weitergeben können, so Wynands.
Seit dem Ende März ist Jan Wynands zurück in Deutschland. In der Zwischenzeit hat das israelische Militär die Entsendung von Truppen nach Rafah angekündigt. Verbündete wie die USA haben Israel wiederholt vor einem großangelegten Angriff auf die Stadt an der Grenze zu Ägypten gewarnt, weil sich dort Hunderttausende palästinensische Binnenflüchtlinge aufhalten. Israel hält aber an seinen Angriffsplänen für Rafah fest. Es will dort nach eigener Darstellung eine der letzten Hochburgen der Hamas zerschlagen. Schon als Wynands noch in Rafah am OP-Tisch stand, habe das IKRK besprochen, was sie im Falle einer Offensive auf die Großstadt tun würden. Einige Mediziner würden die Stadt verlassen, ein Kernteam sollte bleiben.
Auch nach so vielen Einsätzen sei es ein komisches Gefühl, in den Alltag in Deutschland zurückzukehren, sagt Wynands. „Hier mache ich mir mein kühles Feierabendbier auf und weiß: Dr. Haytham steht wahrscheinlich immer noch im OP, mit seinen Gummistiefeln im Blut.“