Immer mehr Details werden nach dem verheerenden Bootsunglück bekannt. Berichte von Geretteten lassen schreckliches Leid erahnen.
Bootsunglück in Griechenland„Sie bitten dringend um Hilfe“ – Schwere Vorwürfe gegen Küstenwache
Nach dem schweren Bootsunglück mit vermutlich Hunderten toten Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer haben die Suchtrupps praktisch keine Hoffnung mehr, noch Überlebende zu finden. Das Suchgebiet in den Gewässern südwestlich von Griechenland wurde am Freitag dennoch nochmals ausgeweitet, wie die Küstenwache mitteilte.
Nach Medienberichten soll die Suche im Lauf des Tages aber eingestellt werden. Am Donnerstagabend waren von den 104 Überlebenden neun Verdächtige in der Hafenstadt Kalamata festgenommen worden. Die Ägypter gelten als mutmaßliche Schleuser und Organisatoren.
Flüchtlinge geraten auf Weg nach Italien in Seenot: Ermittlungen nach Bootsunglück in Griechenland
Der mit schätzungsweise 500 bis 700 Menschen besetzte Fischkutter, der von Ostlibyen aus in Richtung Italien unterwegs war, war in der Nacht zum Mittwoch rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern gesunken.
Zuvor soll der Motor ausgefallen sein, wie Augenzeugen berichten, anschließend sei an Bord eine Massenpanik ausgebrochen sein, die das übervolle Schiff zum Kentern brachte. Seither wurden 78 Todesopfer geborgen, von vielen weiteren wird ausgegangen. Darunter könnten auch Dutzende Kinder sein, wie Erzählungen von Überlebenden nahelegen.
Überlebende berichten nach Bootsunglück von vielen Kindern unter Deck
In einem „BBC“-Bericht sagt ein Arzt nach Gesprächen mit Geretteten, die er behandelt: „Die Überlebenden berichten uns, dass im Inneren des Schiffs Kinder gewesen seien. Kinder und Frauen“, so Kardiologe Manolis Makaris. Bis zu 100 Kinder könnten es den Angaben nach unter Deck gewesen sein. Die Behörden vermuten, dass das Boot sehr schnell sank. Deshalb sei es den Menschen unter Deck vermutlich nicht gelungen, sich ins Freie zu retten.
Auch die Zahl der Passagiere auf dem Boot könnte bisherige Schätzungen sogar noch übertreffen. „Die genaue Zahl aller Menschen, die sich auf dem Boot befanden, war 750. Das ist die genaue Zahl, die mir alle gesagt haben“, so der Arzt, der demnach von rund 600 Todesopfern ausgeht. Die meisten Passagiere stammen laut Küstenwache aus Syrien, Afghanistan und Pakistan.
Bootsunglück in Griechenland: Hunderte Flüchtlinge an Bord, viele wohl ohne Überlebenschance
„Die Zahl der Todesopfer hat sich dramatisch erhöht und steigt stündlich an“, zitiert der „Guardian“ am Donnerstag einen griechischen Beamten. „Es gibt Spekulationen, dass bis zu 600 Menschen an Bord waren, aber das wurde nicht bestätigt.“
Während die Suche nach Überlebenden weitergeht, wächst die Kritik am Verhalten der Küstenwache. Wie der „Spiegel“ berichtet, habe diese nicht eingegriffen, obwohl bereits mehrere Stunden vor dem Untergang des Fischerbootes von den griechischen Behörden zur Verfügung gestellte Luftaufnahmen nahe gelegt hätten, dass Personen auf dem Boot Hilfe benötigten, beziehungsweise in potenziell in Gefahr seien.
Griechische Küstenwache nach Bootsunglück im Fokus
Zudem erhob Kriton Arsenis, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, am Donnerstag schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache. Ihm sei berichtet worden, dass sich der Fischkutter im Schlepptau eines Schiffs der griechischen Küstenwache befunden habe, bevor er kenterte.
Arsenis stellte auch den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung in den Raum und bezog sich dabei ebenfalls auf Zeugenaussagen. Offizielle der griechischen Küstenwache erklärten hingegen, das Scheitern der Rettung sei auf die wiederholte „Verweigerung von Unterstützung“ zurückzuführen. Die Menschen auf dem Boot hätten Hilfe abgelehnt und angegeben, sie wollten Italien erreichen.
Hätte die griechische Küstenwache viel früher eingreifen müssen?
Dies entbinde die griechische Küstenwache nicht von ihrer rechtlichen und humanitären Verpflichtung zu helfen, sagen Völkerrechtsexperten sowie ehemalige und aktive Mitglieder der Küstenwache gegenüber „Solomon“, einer gemeinnützigen Organisation in Griechenland, die den eigenen Angaben „Journalismus im Interesse der Öffentlichkeit betreibt“.
Das Schiff sei offensichtlich überladen und seeuntüchtig gewesen, die sich daraus ergebende Lebensgefahr für die Passagiere hätte direkte Hilfsmaßnahmen zur Folge haben müssen – unabhängig davon, ob die Kontaktperson auf dem Boot diese anfordere.
Gruppe unabhängiger Journalisten in Griechenland wirft Küstenwache schwere Versäumnisse vor
Solomon legt zudem Material vor, das von „Alarm Phone“, einer Initiative für Flüchtlinge in Seenot, stammen soll. Demnach sei die Küstenwache um 17.53 Uhr informiert worden, „dass sich 750 Menschen an Bord befinden, darunter viele Frauen und Kinder“. „Sie bitten dringend um Hilfe“, heißt es in der E-Mail, versandt offenbar an FRONTEX (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache), das Hauptquartier der griechischen Polizei und das Ministerium für Bürgerschutz sowie die Küstenwache in Kalamata. Von der entsprechenden Mail liegt ein Screenshot vor, unabhängig prüfen lässt sich dessen Echtheit nicht.
Auch die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex wusste um das gefährdete Boot. Seine Kollegen hätten das Boot am Dienstag entdeckt und den Behörden gemeldet, sagte Frontex-Chef Hans Leijtens der „Süddeutschen Zeitung“.
In Griechenland sehen insbesondere Teile der Opposition eine Mitschuld bei der Küstenwache. In einem Streitgespräch fragte Alexis Tsipras, Chef der größten linken Oppositionspartei Syriza, den Interimsminister für Bürgerschutz, Evangelos Tournas, warum diese nicht eingegriffen habe. Tournas erklärte, ein Eingreifen in internationalen Gewässern sei nicht möglich, wenn der Kapitän des Bootes dies ablehne.
Nora Markard, Professorin für Internationales Öffentliches Recht und Internationale Menschenrechte an der Universität Münster, ist da anderer Meinung. Die Küstenwache hätte nicht nur eingreifen dürfen, sondern müssen, sagt sie gegenüber „Solomon“. „Wenn ein Kapitän die Situation völlig falsch einschätzt und sagt, das Schiff sei in Ordnung, ist das Schiff trotzdem in Not, wenn die Passagiere durch den Zustand des Schiffes in großer Gefahr sind“, erklärt Dr. Markard.
„Wenn ein Schiff überhaupt keine Flagge führt, wie es hier der Fall zu sein scheint, gibt das Seerecht anderen Staaten das Recht, das Schiff zu besuchen. Dazu gehört auch das Recht, das Schiff zu betreten, um es zu überprüfen“, sagt Markard.
Schleuser gehören zu Überlebenden und befinden sich nun in Polizeigewahrsam
Am Freitag begannen die Behörden, die Überlebenden in ein Auffanglager nördlich von Athen zu bringen, wo die Migranten registriert werden und Asylanträge stellen können. Lediglich die neun mutmaßlichen Schleuser blieben in Kalamata in Polizeigewahrsam.
Dabei handelt sich nach Angaben der Küstenwache um Ägypter im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Ihnen werden fahrlässige Tötung, Menschenhandel und die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
Der Unglücksort befindet sich in der Region der tiefsten Stelle des Mittelmeers, dem bis zu 5267 Meter tiefen Calypsotief. Eine Bergung des Wracks ist deshalb kaum wahrscheinlich. Experten halten einen solchen Versuch für sehr aufwendig und teuer.
Die griechische Regierung hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. (mit dpa)