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Brief an das CoronavirusDu befällst uns bei dem, was uns als Menschen ausmacht

Lesezeit 7 Minuten
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Umarmungen, das Infektionsrisiko überhaupt, seit einem Jahr? Es ist schrecklich.

  1. Vor einem Jahr begann der erste Lockdown. Seitdem ist das bis dahin Undenkbare normal geworden: geschlossene Schulen, Betriebe am Abgrund, Menschen auf Distanz.
  2. Ein Brief unseres Autors Imre Grimm an einen übelwollenden Winzling.

Sehr geehrtes Coronavirus,wir kennen uns kaum. Das darf auch gern so bleiben. Wir haben wenig gemeinsam. Und doch hast Du in nur einem Jahr die Welt, wie wir sie kannten, auf den Kopf gestellt. Du hast die Spezies, die bis dahin das Regiment geführt hat, herausgefordert: unsere. Du hast unser Leben eindimensional und eng gemacht. Du hast Verzweiflung, Hass und Streit gesät. Du hast 120 Millionen von uns infiziert und bisher 2,6 Millionen von uns getötet. Indem Du ihre Körper dazu brachtest, sich gegen sich selbst zu richten.Du hast Dich eingeschlichen in unsere Leiber und Seelen. Dabei bist Du nicht einmal ein richtiges Lebewesen. Du kannst Dich nicht teilen. Du hast keinen Stoffwechsel. Du bist allein nicht lebensfähig. Du bist 120 Millionstel Millimeter klein. Dein Radius ist tausendmal dünner als ein menschliches Haar. Du kannst nicht wachsen. Du bist ein erbärmlicher Klumpen Nichts, ein submikroskopisches Konglomerat aus Biomolekülen.Die grellgiftigen Bilder, die wir uns von Dir gemacht haben, sind Fantasiegebilde. Zwei Trillionen Coronaviren sind bisher auf diesem Planeten aufgetaucht, etwa so viele, wie es Sandkörner gibt. Sie alle zusammen passen in eine Coladose. 160 Milliliter Giftbrühe. Ein kleiner, tödlicher Cocktail. Mehr seid Ihr nicht.

Aber wie konnte ein winziger Parasit wie Du, der noch nicht einmal eine Farbe hat oder einen Schatten wirft, in kürzester Zeit ein so mächtiger Menschengegner werden? Wie kommt es, dass Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Sport seit einem Jahr nur noch ein Thema kennen? Dass Du als alles überlagernder Krisenmonolith selbst die Jahrhundertkatastrophe Klimawandel aus dem Blickfeld gerückt hast?

Wir brauchen Dich nicht. Du brauchst uns. Du bist wie der streitsüchtige, lärmende letzte Partygast in der Küche, den niemand eingeladen hat und der einfach nicht gehen will. Der Gedanke, mit Dir koexistieren zu müssen, lähmt uns. Wir träumen sogar mehr, lebhafter und wilder, denn du lässt uns flacher schlafen.

Ein Jahr ist es her, dass wir uns Webcams kauften, dass wir uns schüchtern in den ersten verrauschten Zoom-Konferenzen anlächelten („Könnt ihr mich hören?“) und uns unbeholfen und fahrig den Händedruck zu verweigern begannen, noch ungeübt in der Kunst des Nichtanfassens. Das war alles noch ein bisschen aufregend, damals, im ersten Lockdown. Weltnachrichten im Minutentakt. Der Papst auf dem leeren Petersplatz. Alles schließt. Die Fußball-EM, Olympia, der Kindergeburtstag – alles fällt aus. Wir klebten vor den Fernsehern fest, durstig nach gesicherten Fakten im Chaos der Blitzmeldungen.

Du hast uns dann schnell auseinandergetrieben, wie eine Löwin die Gazellen. So weit auseinander, dass wir Angst haben müssen, Nähe verlernt zu haben. Du hast grausame Bilder produziert von Menschen, die sich durch Plastikplanen umarmen, von Militärlastern in Bergamo, von Kindern, die auf dem Pausenhof in aufgemalten bunten Kreisen stehen.

Deine Sprache klingt kalt

Wir haben absurde Wortungetüme gelernt wie Aerosolabsinkgeschwindigkeit, Superspreading-Event, Beherbergungsverbot, Öffnungsdiskussionsorgien, Isolationsverweigerer, Pandemietreiber oder Querdenker-Demo. „Jede Krise hat ihre eigene Sprache“, hat die Kanzlerin gesagt. Deine Sprache, Corona, klingt kalt und technokratisch.

Du befällst uns ausgerechnet bei dem, was uns als Menschen ausmacht: Sprechen, Atmen, Singen, sich Umarmen. Und wen Du nicht infiziert hast mit Dir oder irgendwelchen Deiner Onkels und Mutanten, dem hast Du indirekt Argwohn und Hader eingepflanzt. Wir haben uns wund diskutiert über „Lockerungen“ – ein Begriff, den man sonst nur im Strafvollzug hört. Eine Pandemie des Zorns begleitet Dich. Wir sind erschöpft. Du hast uns ans Limit gebracht und darüber hinaus. Prävention ist uncool. Prävention heißt: Richtlinien, Empfehlungen, Verbote, Strafen. Aber ein Schaden, der nie eingetreten ist, weil er rechtzeitig verhindert wurde, ist eben unsichtbar.

Wir haben inzwischen verstanden, wie du wirkst. Was du tust. Du bist ein tödlicher Trickser: Du tarnst Dich als harmloses Protein, schleichst Dich über Nase und Rachen in unsere Körper, dockst mühelos an unsere Zellen an, weil Deine Kronenzacken zu unseren Zellrezeptoren passen wie ein Schlüssel ins Loch. Dann baut Dein Erbgut in wenigen Stunden unsere Zelle zur Virenfabrik um und produziert Kopien Deiner selbst, bis die übervolle Zelle quasi „platzt“. Unser Immunsystem fährt hoch und schickt Fresszellen und Enzyme, dabei übertreibt es manchmal, das schwächt den Körper weiter. Die Reste der Zellen, die Du zerstört hast, sickern als Flüssigkeit in die Lunge, die Folge sind Atemnot und Lungenentzündungen. Primaten wie wir sind Deine liebsten Wirtstiere.

Die Krankheit heißt Covid-19, Du selbst mit vollem Namen Sars-CoV-2. Aber das spielt keine Rolle. Du bist ein mörderischer Widerling. Autokraten, Diktatoren und Narzissten sind Deine besten Freunde unter den Menschen.

Im Sommer 2020 dachten wir kurz, es sei geschafft. Da haben wir noch gelacht über die irrsinnige niedersächsische Anordnung, Eiskugeln dürfen im Umkreis von 50 Metern um die Eisdiele „während des zügigen Sichentfernens“ höchstens flüchtig „angeleckt“ werden, um ein „Heruntertropfen des Eises auf Kleidung oder Fußboden zu verhindern“. Dann kam der Herbst. Dann die zweite Welle. Jetzt die dritte. Wir lachen nicht mehr.

Was Infektionskrankheiten anging, wähnte sich zumindest die westliche Welt ja längst in trügerischer Sicherheit. Die letzte globale Grausamkeit war Aids. Doch moderne Medikation sorgte dafür, dass HIV kein automatisches Todesurteil mehr ist. Lepra, Pest, Tuberkulose, Fleckfieber, Masern, Diphterie, Pest, Pocken – all das schien einer fernen Welt anzugehören, einer Welt voller Nierenschalen, dicker Gummischläuche und Fotos von blassen Kindern mit großen Augen, umsorgt von Nonnen.

Nicht Infektionen gelten als tödlichste Gefahr in der modernen Welt, sondern Krebs. Krebszellen sind die Arschlöcher der Biologie. Doch Krebs ist nicht ansteckend. Dann kamst Du. Du bist nicht heilbar. Du erinnertest uns daran, dass unser Körper mit seinen 30 Billionen Zellen zwar ein unvorstellbar kraftvolles Wunderwerk, gleichzeitig aber auch ein kränkelndes Mirakel ist. Für eine Spezies, die drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich hat, haben wir erstaunliche Baumängel.

Manche glauben, Du seist ein Scheinriese, eine globale Verschwörung und politisch gewollte Täuschung. Je komplexer die Zeiten, desto irrealer die Erklärungsmuster. Das entlastet emotional. Aber der Keil, den Du damit auch zwischen Freunde und Verwandte getrieben hast, ist ganz real. Du hast längst nicht nur eskalierende Veganköche dazu gebracht, den größten Quatsch zu glauben.

Eine große Mehrheit folgt der Vernunft, gewiss. Aber auch sie verzweifelt an der Inkonsistenz mancher politischen Entscheidung. Die Beratungen der Ministerpräsidenten werden zum albernen Schaulaufen der Alphamännchen, als gehe es um die besten Auftritte in der „Tagesschau“ und nicht um Leben und Tod. Ein Bremer Golfplatz war wegen des föderalen Flickenteppichs nur zur Hälfte bespielbar, weil neun der 18 Löcher in Niedersachsen liegen. Blumenläden und Friseure machen auf, Spielwaren- und Schuhläden nicht. Das Bezirksamt Berlin-Neukölln warnt offiziell vor dem „Ablecken von Haltegriffen in der U-Bahn“. Kurze Frage: Was soll das?

Ein statistikbesessenes Land

Wir haben alles mitgemacht. Haben beschwichtigt, haben geduldig zu bleiben versucht, haben unseren Kindern erklärt, was zu tun ist. Zweimal „Happy Birthday“ singen beim Händewaschen. Nein, Torben darf leider nicht kommen. Wir haben versucht, zu verstehen, dass wir selbst unsere alten, verwirrten Angehörigen kurz vor ihrem Tod nicht mehr besuchen dürfen. Jetzt sind die Hotels auf Mallorca geöffnet und die in Timmendorfer Strand für Touristen geschlossen. Wer soll da noch mitkommen?

Das ganze Land ist statistikbesessen. Wie in einem kollektiven Matheleistungskurs geht es permanent um Inzidenzen, R-Werte, Quoten. Dabei möchte man einfach endlich nur noch hören: Wir impfen im Eiltempo, wir testen in Massen, wir pfeifen auf Bürokratie, wir melden Zahlen auch am Wochenende. Und zwar nicht per Fax.

Aber weißt Du was, Corona? Wir sind trotzdem besser also du. Wir sind Menschen. Wir können lernen. Unsere Gehirne haben Impfstoffe entwickelt. Wir mögen uns streiten, aber wir wissen, wie wir uns wehren. Ihr seid mehr, aber wir sind schlauer. Wir werden gewinnen, wir werden uns unser Leben zurückholen.

Möglich, dass wir ein paar Prioritäten neu sortieren werden, wenn wir Dich im Griff haben. Vor allem aber: Wir werden uns wieder in die Arme nehmen. Wir werden feiern, wie es die Welt noch nicht erlebt hat.

Dies ist nicht der erste Brief an Dich, Coronavirus. Die Jungen und Mädchen aus der „Kinderwohngruppe 3“ eines Kinderdorfes im Lipperland haben Dir auch schon geschrieben. „Hallo Coronavirus“, heißt es in ihrem Brief. „Wir haben Dir etwas Wichtiges zu sagen. Obwohl Du stark bist, sei Dir nicht so sicher, weil wir Dich gemeinsam besiegen. Wir glauben, dass wir Menschen sowieso gegen Dich gewinnen, weil wir zusammen stark sind. Also, Du kannst jetzt schnell verschwinden und nie mehr zurückkommen.“Da hast Du es schwarz auf weiß, Coronavirus. Du hast Dich mit den Falschen angelegt.

Mit freundlichen Grüßen

Imre Grimm