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Bürgerkrieg in Syrien„Wir verteilten Essen, da haben wir den ersten Einschlag gehört“

Lesezeit 7 Minuten
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Syrische Flüchtlinge campieren in den Ruinen einer Kirche im nordsyrischen Babisqa an der Grenze zur Türkei. Zehntausende syrische Binnenflüchtlinge leben weiterhin in unorganisierten, kleineren oder größeren Camps in Nordsyrien. 

Frau Kühnle, wie ist aktuell die Lage in den nordsyrischen Gebieten, die die Welthungerhilfe mit ihrer Arbeit erreicht?

Jessica Kühnle: Das, was Marlehn Thieme, die Präsidentin der Welthungerhilfe, bei der Vorstellung des Welthungerindexes im Oktober vergangenen Jahres gesagt hat, ist leider wirklich so eingetreten: Die Coronavirus-Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger bezogen auf die Ausbreitung von Hunger und Armut. Und das gilt ganz besonders auch für Syrien.

Dabei spielt überhaupt keine Rolle, wer das jeweilige Gebiet in Syrien kontrolliert, die Truppen des syrischen Regimes, die der letzten verbliebenen Rebellen in Idlib oder die von der Türkei unterstützten Aufständischen: Die Lage hat sich überall verschlechtert.

Wie viele Menschen sind von Hunger betroffen?

12,4 Millionen Menschen in Syrien wissen nach Angaben des World Food Programme von Januar nicht, wovon sie sich ernähren sollen. Das sind schätzungsweise 60 Prozent der Bevölkerung des Landes, so viele wie noch nie seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor nun fast zehn Jahren. Das ist ein Anstieg von 4,5 Millionen Menschen binnen eines Jahres. Zum Vergleich: 2019 hungerten in Syrien 6,5 Millionen Menschen. 80 Prozent der Bevölkerung gelten heute nach internationalen Standards als arm.

Welthungerhilfe in Syrien und in der Südosttürkei

Jessica Kühnle (33) ist seit Herbst 2018 für die Welthungerhilfe in Gaziantep im Einsatz. Die türkische Millionenstadt liegt etwa 50 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt. Von Gaziantep organisiert und koordiniert die Organisation Nothilfe-Aktionen und weitere Hilfsprojekte für syrische Bürgerkriegsopfer auf der türkischen wie auf der syrischen Seite der Grenze.

In der syrischen Stadt Azaz konnte die Welthungerhilfe kürzlich zusammen mit lokalen Partnern 250 Familien, also etwa 1250 Flüchtlingen insgesamt, die bislang in Zelten lebten, stabile Wohncontainer zur Verfügung stellen. (ps)

Was heißt das konkret: Sie wissen nicht, wie sie sich ernähren sollen?

Vor allem heißt das, das viele Menschen keine Arbeit haben und damit kein Geld, um sich Nahrungsmittel zu kaufen. Das ist das Hauptproblem. Das sind ganz klar Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie. Auch in Syrien gab es Lockdowns. Die Leute haben ihre Arbeitsplätze verloren. Und durch die Ausgangssperren konnten Landwirte zeitweilig auch ihre Produkte nicht verkaufen.

Das größere Problem ist jedoch, dass den Bauern die finanziellen Mittel fehlen, um Saatgut, Dünger, Pflanzenschutzmittel und Benzin für ihre Bewässerungsanlagen zu kaufen. Denn auch die Preise für die in der Landwirtschaft benötigten Materialien sind enorm gestiegen. Um Bauern und die lokale Produktion zu unterstützen, verteilt die Welthungerhilfe im Norden von Aleppo auch „landwirtschaftliche Gutscheine“, die für Werkzeuge, Saatgut, Dünger, und Benzin umgetauscht werden können.

Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise in Syrien aus?

Die Landeswährung befindet sich im freien Fall. Lebensmittelpreise sind innerhalb von sechs Monaten um das doppelte gestiegen, in Aleppo im Laufe der vergangenen zwölf Monate um fast 300 Prozent. Ein Brot ist für viele mittlerweile unbezahlbar.

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Jessica Kühnle, Welthungerhilfe, organisiert vom südost-türkischen Gaziantep aus Nothilfe und eine Vielzahl von Hilfsangeboten und -projekten für syrische Flüchtlinge in Nordwestsyrien und auf der türkischen Seite der Grenze. 

Ein ungelernter Syrer muss aktuell fast zwölf Wochen arbeiten, um genug Geld für die Lebensmittelrationen eines Monats zu verdienen. Und wir sprechen da nicht von Fleisch, sondern von Grundnahrungsmitteln wie Reis, Bulgur, sauberem Wasser zum Kochen, Salz und Zucker. Und das Problem setzt sich bei der Miete fort.

Wie ist die Lage in dem mit Binnenflüchtlingen gefüllten Gebiet in und nördlich von Idlib?

Nicht anders als im Rest des Landes. Nach den mir vorliegenden Zahlen der Vereinten Nationen sind dort in Nordwest-Syrien über die Hälfte der 4,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Bewältigungsstrategien der Erwachsenen in den Familien sind: Mahlzeiten reduzieren oder komplett ausfallen lassen zugunsten ihrer Kinder. Gleichzeitig versuchen sich die Familien Geld zu leihen. Viele Kinder sind mangelernährt und viel zu klein für ihr Alter.

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Syrische Kinder leiden unter ihrer Situation als Flüchtlinge im eigenen Land, unter Mangelernährung und der schlechten allgemeinen Versorgungslage besonders. 

Der nächste Schritt ist Kinder zum Betteln zu schicken oder zum Arbeiten. Der letzte Schritt sind dann Frühehen. Auch die sind auf dem Vormarsch mit dem Ziel, die Mädchen zu versorgen und als Esser aus den Familien herauszubekommen.

Was wird von internationaler Seite getan, um der Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie in Syrien entgegen zu wirken?

Die Zahlen zu Infizierten und an Covid-19-Erkrankten, die veröffentlicht werden, spiegeln nicht die reale Lage wieder. Zum einen haben die Menschen, die eventuell Symptome an sich bemerken, Angst sich zu melden, weil sie fürchten, ihre Arbeit zu verlieren. Für das vom Regime kontrollierte Gebiet gibt die syrische Regierung außerdem lächerlich niedrige Zahlen an.

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Immerhin sollen jetzt im Laufe der ersten Jahreshälfte unter der Führung der Weltgesundheitsorganisation Impfstoffe in das von den Rebellen kontrollierte Gebiet gebracht werden – insgesamt Impfdosen für 60.000 Menschen.

Können denn die Landwirte in der umkämpften Region zurzeit ihre Felder bestellen? Man hört aktuell nicht so viel von Kampfhandlungen.

Es gibt im Moment zwar keine großangelegten Militäroffensiven, die es in die Medien schaffen, aber es gibt sehr oft Luftangriffe. Vor drei Wochen war ich in der Stadt Reyhanli nahe der türkisch-syrischen Grenze. Wir verteilten Lebensmittel an Flüchtlinge, da haben wir den ersten Einschlag gehört. Ein syrisches Dorf wurde aus der Luft mit Raketen angegriffen.

In dem von Flüchtlingen übervölkerten Gebiet ist auch Material zum Heizen extrem knapp. Hat sich daran irgendetwas geändert?

Nein. Wir haben im Dezember zwei Syrerinnen, die in die Region geflohen sind und in einem informellen Camp leben, danach gefragt. Sie haben uns geantwortet, dass sie gegen die Kälte Kleidung, Plastik, sogar Teile ihres Zeltes verbrennen. Die Kinder bekommen davon Atemwegserkrankungen.

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Eine Frau wärmt sich an einem kleinen Feuer in einem Zelt die Hände: Brennmaterial ist in den nordsyrischen Flüchtlingsgebieten nach wie vor knapp. 

Entweder gibt es kein Heizöl und wenn es vorhanden ist, ist es so teuer, dass sich die Leute sich das nicht leisten können. Während der Winterhilfe haben wir Heizölgutscheine verteilt. Es ist noch immer kalt, vor allem nachts.

Leben die Flüchtlinge nach wie vor oft in informellen Lagern?

Ja, es gibt in Nordwestsyrien nach Zahlen von Oktober 2020 71 organisierte Flüchtlingslager und mehr als 1000 informelle Camps irgendwo am Straßenrand oder auf einem Feld.

Sie sind jetzt seit zweieinhalb Jahren in der Region für die Welthungerhilfe im Einsatz. Wie gehen Sie persönlich damit um, dass sich die allgemeine Lage für die Menschen immer weiter verschlechtert?

Das ist auf jeden Fall bedrückend, da ich in engem Kontakt bin mit unseren lokalen Partnern und wir auch viel mit den betroffenen Menschen sprechen. Das ist wirklich manchmal hart zu verkraften. Man sieht den Leuten ins Gesicht. Man sieht: Die Menschen haben keine Reserven mehr. Die wollen einfach nur ihre Ruhe haben.

Wir können als Welthungerhilfe in Nordwest-Syrien immer nur kurzfristig das Leid lindern, indem wir beispielsweise Lebensmittel oder Lebensmittelgutscheine verteilen. Wir sehen, dass das einen positiven Effekt hat. Aber der hilft natürlich nur kurzzeitig.

Bürgerkrieg in Syrien begann im März 2011

Ein Jahrzehnt nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien leiden vor allem jungen Menschen unter den Folgen. Fast jeder Zweite der 18 bis 25-Jährigen (47 Prozent) hat bereits ein Familienmitglied oder einen Freund verloren, wie aus einer am Mittwoch veröffentlichten Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) hervorgeht.

Zwölf Prozent der Befragten wurden im Krieg verletzt, 62 Prozent sind innerhalb des Landes oder ins Ausland geflohen. Für die Studie wurden 1400 Syrer in Syrien, im Libanon und in Deutschland befragt.

Der Konflikt in Syrien war im März 2011 mit Protesten gegen die Regierung von Machthaber Baschar al-Assad ausgebrochen. Die Sicherheitskräfte gingen damals mit Gewalt gegen Demonstrationen vor. Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung. Mehr als 400.000 Menschen wurden getötet, rund zwölf Millionen vertrieben. Alle Bemühungen um eine politische Lösung für den Konflikt blieben bislang erfolglos. (dpa)

Hinzu kommt, dass die Geberbereitschaft der institutionellen Geber wie Regierungen zurückgehen könnte infolge der Coronavirus-Pandemie. Bezogen auf den von den Vereinten Nationen bezifferten Finanzbedarf für die Hilfe in Syrien gibt es eine Finanzierungslücke von 50 Prozent. Das ist hart zu ertragen. Uns hat natürlich sehr erfreut, dass die Spendenbereitschaft der Privatleute in Deutschland nach wie vor groß ist gerade auch für Syrien.

Wie verschaffen Sie sich persönlich Erfolgserlebnisse in Ihrer Arbeit?

Wenn ich mit einer Familie spreche, die es als Flüchtlinge in die Türkei geschafft hat, und ihre Geschichte höre und ihre miserable Lage und dann einen Monat feststellen kann, dass diese Familie in eine sicherere Wohnung ziehen konnte oder nötige Papiere bekommen hat oder eine Arbeitserlaubnis oder wir die Kosten der medizinischen Operation für ein Familienmitglied übernehmen konnten: Das sind Highlights für mich.

Das gilt auch für Menschen auf der syrischen Seite der Grenze. Wenn ich sehe, dass die psychische Situation von Frauen oder Kindern sich durch unsere Schutzprojekte verbessert hat, ist das auch ein persönliches Highlight für mich. Das treibt mich an.