Gendergerechte Sprache?Warum wir die Kritik von Wolfgang Thierse ernst nehmen müssen
- Lamya Kaddor gründete 2010 den Liberal-Islamischen Bund. Die Islamwissenschaftlerin schreibt unter anderem über Interkulturalität und Integration.
- Sie meint: Die Thesen des SPD-Politikers Wolfgang Thierse zur „Cancel Culture“ sollten diskutiert werden, auch wenn er selbst kein Vorbild für Debattenkultur abgibt
Wolfgang Thierse, prominenter Sozialdemokrat und altgedienter Kämpe seiner Partei mit vielen Meriten, wird angefeindet – von links. Der 77-Jährige sieht sich nach eigenen Worten einem Shitstorm ausgesetzt, in dem Beschimpfungen als „Reaktionär“ noch zu den harmloseren gehört.Der Ex-Bundestagspräsident stört sich an gendergerechter Sprache, hält Tilgungen historisch belasteter Straßennamen für voreilig und verteidigt „Blackfacing“ als Form kultureller Aneignung. Er meint, über gesellschaftliche Vielfalt werde derzeit zu viel gesprochen, und das oft zu radikal und zu emotional. Nicht nur rechte, sondern auch linke „Identitätspolitik“ drohe das Land zu polarisieren, mahnt Thierse. Viele sehen das kritisch – auch die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken.Sie fürchtet, dass Thierses Thesen ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD abgäben. Das wiederum hat Thierse so erzürnt, dass er seinen Parteiaustritt anbot.
Seine Meinung wird vor allem von Älteren geteilt
Ich schätze Wolfgang Thierse – auch als Mitstreiter gegen rechtsradikale Tendenzen. Dass manche nun Parallelen zwischen ihm und Thilo Sarrazin sehen, ist absurd. Er feindet keine Bevölkerungsgruppen an, bemüht sich um Differenzierung und bekennt sich zur Vielfalt in Deutschland.
Mit seiner persönlichen und politischen Biografie verkörpert er einen Teil des deutschen Wir. Seine Meinung wird vor allem von Älteren geteilt. Man darf Wolfgang Thierse nicht mir nichts, dir nichts abkanzeln. Man muss sich damit auseinandersetzen. Sonst ist der Zusammenhalt der Gesellschaft in Gefahr. Wenn wir schon über Haltungen, wie Thierse sie vertritt, nicht mehr ins Gespräch kommen können, sieht es wirklich düster aus.
Mit Widerspruch muss man rechnen
Man muss nicht einer Meinung sein, um sich zu respektieren. Offenbar müssen wir das wieder neu lernen. Ich teile Thierses Meinung an einigen Stellen nicht und bin in Teilen verwundert darüber. Sie ist aus meiner Sicht geprägt von einer gewissen Ignoranz und Unwissenheit über die Dynamiken und das (Self-)Empowerment, die soziale Gruppen umtreiben. Zudem scheint er das zu sein, was er anderen vorwirft: zu emotional.
Wer sich 2021 in gesellschaftliche Debatten einbringt, muss damit rechnen, Widerspruch zu erhalten. Auch heftigen. Shitstorms gehören heutzutage dazu – leider. Wer auf die Pegelausschläge in den „sozialen Medien“ mit noch steileren Gefühlskurven reagiert, der hat die dort etablierten Kommunikationsformen und ihre Gesetzmäßigkeiten nicht verstanden.
Wolfgang Thierses Angebot eines Parteiaustritts ist übertrieben
Mögliche Konsequenzen: 1. Man zieht sich aus den Debatten zurück. Das ist die schlechtere Option. 2. Man akzeptiert die aktuell geltenden Regeln. Und die besagen zum Beispiel: Wer „Blackfacing“ verteidigt, bei dem weiße Menschen ihre Haut schwarz färben, um Schwarze darzustellen, der erntet Gegenwind von links. Wer Muslime verteidigt, der erntet Gegenwind von rechts. Solange keine Beleidigungen und Bedrohungen hin und her geworfen werden, muss man damit klarkommen. Gesellschaften verändern sich. Stets. Das Internet forciert das. Debatten lassen sich nicht mehr im Stil der 80er Jahre führen. Und bloß weil Begriffe einst als okay galten, muss das nicht so bleiben.
Ich bin seit 15 Jahren mit Shitstorms konfrontiert. Jede meiner öffentlichen Äußerungen wird zuhauf mit Aussagen über meine arabische Herkunft, meine islamische Religion oder mein Geschlecht quittiert. Seit dem Kindergarten erlebe ich entsprechende Vorurteile im Alltag. Wenn nun jemand wie Wolfgang Thierse anderen Menschen, die zeit ihres Lebens um Anerkennung kämpfen mussten, rät: „Entspannt euch! Seid nicht so dünnhäutig, sonst gefährdet ihr die Debattenkultur“, dann wirkt das auf mich seltsam. Als nicht oder kaum Betroffener Betroffene belehren zu wollen hat immer ein Geschmäckle. Nicht zuletzt waren es Politiker aus Thierses Generation, Politiker der Ära Helmut Schmidt oder Helmut Kohl, die zum Beispiel in meinem Fall nicht ausreichend dafür gesorgt haben, dass mir als Tochter syrischer Einwanderer ein Betroffensein erspart geblieben ist. Und jetzt, wo sie sich plötzlich selbst betroffen fühlen, reagieren sie in ihrer Gegenwehr so dünnhäutig und emotional, wie sie es bei anderen kritisieren.
Ich halte Wolfgang Thierses Angebot eines Parteiaustritts für übertrieben. Für nicht übertrieben halte ich es, wenn Menschen laut aufbegehren, die Diskriminierungen erfahren haben – und das nur, weil sie homosexuell, trans, schwarz, andersgläubig oder weiblich sind. Sie wurden schon lange vor der angeblichen „Cancel Culture“ abgekanzelt, gegen die Thierse nun zu Felde zieht. Wären die Feministinnen der ersten Stunde nicht laut gewesen, bräuchten Ehefrauen vermutlich immer noch die Einwilligung ihres Mannes, um arbeiten zu dürfen.Emotionalität und Betroffenheit gehören in gesellschaftliche Debatten.
Hier geht es nicht um Einzelpersonen, sondern um kollektives Erleben. Wolfgang Thierse springt zu kurz, wenn er meint, nicht das subjektive Empfinden dürfe entscheidend sein, sondern das vernünftig begründete Argument. Beides gehört in die Abwägung. Und eigentlich müsste er das wissen, hatte er sich doch als Bundestagspräsident selbst an einer Sitzblockade gegen Nazis beteiligt und sich in der Debatte über Thilo Sarrazin gegen dessen Ausschluss aus der SPD gestellt. Begründung: Er – Thierse – sei schon immer ein „überzeugter Anhänger der freien, auch der kraftvollen Meinungsäußerung gewesen“.