Chelsea Manning machte Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak publik. Im Interview erzählt sie, wieso sie sich nicht als Heldin sieht.
Chelsea Manning„Ich bin keine Heldin – aber ich versuche, als Vorbild zu taugen“
Vor 12 Jahren sorgte Chelsea Manning für die Veröffentlichung geheimer Dokumente der US-Army - und enthüllte so amerikanische Kriegsverbrechen im Irak. Trotzdem sei sie weder Pazifistin, noch Heldin, sagt sie heute: Sie fühle sich vielmehr als „Fußnote“ in diesem Skandal. Warum sie ein Buch schrieb, um das zu ändern, und wieso sie gern das Vorbild für trans Kids wäre, das sie selbst nie hatte, erklärt sie im RND-Interview.
Frau Manning, wie oft haben Sie inzwischen bereut, dass das Gratis-WLAN des Washingtoner Buchladens Barnes & Noble zwar schlecht ist – aber doch gut genug, um Hunderttausende Dateien hochzuladen?
Sie spielen darauf an, dass ich die Geheimdaten der Army heimlich aus einem Starbucks über das WLAN des benachbarten Buchladens verschickt habe, damit mir keiner auf die Spur kommt.
Fast wäre das WLAN zusammengebrochen und Sie hätten die Daten nicht an Wikileaks schicken können. Die Videoaufnahmen von US-Kriegsverbrechen im Irak wären nie öffentlich geworden, Sie wären auch nicht jahrelang eingesperrt worden.
Ich denke über mein Leben nicht in solchen Kategorien nach. Für mich war das nur eine Episode in meinem Leben, das auch danach weiterging.
Was Sie „eine Episode“ nennen, hat einen Fußabdruck in der Weltgeschichte hinterlassen.
Die Geschichte hat aber auch ihren Fußabdruck auf mir hinterlassen! (lacht)
Zwei Suizidversuche im Gefängnis
Sie haben sieben Jahre im Gefängnis unter Bedingungen verbracht, die der UN-Sonderberichterstatter als Folter kritisiert hat und unter denen Sie zwei Suizidversuche unternahmen. Haben Sie sich wirklich nie gewünscht, die Daten nicht weitergegeben zu haben?
Sie müssen sich meine damalige Lage klarmachen: Ich arbeitete in diesem Militärjob, 14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ich sah diese Eskalation von Reaktion und Gegenreaktion: unsere Aktionen als Besatzer, die Reaktionen der heimischen Bevölkerung und wie wir wieder reagierten. Für mich war es vorhersehbar wie die Wettervorhersage, aber das Töten hörte nicht auf. Viele meiner Kameraden schien es nicht einmal zu stören, wenn unschuldige Zivilisten starben. So wuchs mein Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit – und so kam es zu meiner Entscheidung.
Einsatz für Transrechte
Viele Menschen haben Sie für Ihre Enthüllungen als Held gefeiert. Als Sie 2014 die US-Regierung darauf verklagten, sich Ihrem weiblichen Geschlecht entsprechend verhalten zu dürfen, wurden Sie für viele in der Transbewegung eine Heldin. Womit haben Sie die Welt stärker verändert?
Das weiß ich nicht. Die Welt ändert sich kontinuierlich. Ich selbst konzentriere mich immer auf die Projekte, die ich gerade angehe. Das waren Transrechte, Proteste gegen Rassismus, zuletzt auch ehrenamtliche, humanitäre Hilfe an der ukrainisch-polnischen Grenze, nachdem Russland in der Ukraine einmarschiert war.
Aber für viele „trans Kids“ sind Sie die Heldin, die frühere Generationen nicht hatten.
Ja, das stimmt wohl. Aber ich lege es nicht darauf an, Heldin oder Idol zu sein. Ich versuche, die Art Mensch zu sein, die ich gebraucht oder gewollt hätte, als ich ein Teenager war. Ich hatte damals kein Vorbild und niemanden, dem ich mich verbunden gefühlt hätte. Also versuche ich, so einer Figur möglichst nahe zu kommen. Das gelingt mir aber nicht perfekt, ich habe meine persönlichen Fehler, klar.
Manning lehnt den Titel „Heldin“ ab
Warum mögen Sie den Begriff des „Heldentums“ nicht?
Ich war im Militär. Da zieht man nicht raus, um ein Held zu sein, sondern um seine Aufgabe zu erledigen. Als Aktivistin habe ich mir diese Mentalität bewahrt: Ich sehe auch das als Job, als etwas, das du einfach erfüllst.
Macht das einen Helden aus: den Job zu erledigen, auch wenn es gefährlich wird?
Wissen Sie, den Großteil der letzten zehn Jahre habe ich einfach nur versucht, meinen Kopf über Wasser zu halten. Zu überleben. Ob es als Obdachlose war, als Soldat, als queere und trans Person. Das meiste, das ich getan habe, war der Versuch, den Tag zu überstehen. Wenn mich das zur Heldin macht, sind viele Leute Helden.
Sie erzählen in Ihrem Buch Ihr gesamtes Leben – von Ihrer schwierigen Kindheit, Ihrem Ringen mit der Geschlechtsidentität bis hin zu Ihrer Ablehnung der Art, wie das US-Militär die Kriege im Irak und in Afghanistan führte. Warum?
Die meisten Leute fragen mich nach diesen wenigen Wochen, die schon viele Jahre zurückliegen. Aber ich bin eine ganze Person, ich habe ein Leben. Meine Geschichte, meine eigene Sicht auf die Dinge, all das hat bisher kaum eine Rolle gespielt. Das wollte ich ändern. Es hat mich sehr frustriert, zur Fußnote in diesem Großskandal gemacht zu werden.
Aber Sie waren doch der Auslöser.
Aber ich fühle mich als Fußnote, wenn die Leute mich mehr über die Geschehnisse von 2010 fragen als über meine Gedanken und Perspektive darauf und wie ich zur Person wurde, die ich bin. Aus meiner Sicht sind mir die interessantesten Dinge danach passiert.
„Die Bundeswehr ist eine hochgradig professionelle Organisation“
Sie haben sich freiwillig bei der Army gemeldet wegen der Instabilität Ihres Lebens. Ist das typisch für die Army, vor allem Menschen aus armen, instabilen Verhältnissen zu rekrutieren?
Zu meiner Zeit war das jedenfalls so. Die USA waren zeitgleich in Afghanistan und im Irak involviert, und deshalb haben sie ihre Rekrutierungsstandards ziemlich gesenkt. Vor allem zu dieser Zeit haben sie wirklich nach Leuten gesucht, die verletzlich waren – und das war ich. Zugleich brauchte ich das Geld – allein für die Studiengebühren. Da war ich definitiv nicht allein.
Welchen Eindruck haben Sie als US-Soldat von der deutschen Bundeswehr gewonnen?
Die Bundeswehr ist eine hochgradig professionelle Organisation. Mir schien es immer so, dass es da Leute gibt, die mit Herzblut dabei sind. Zumindest die, auf die ich traf, wollten in ihrer Laufbahn ernsthafter vorankommen, als ich das vom US-Militär kannte, wo sich die meisten dachten: Oh ja, das ist halt der Job, Augen zu und durch. Ich glaube, dass das deutsche Militär mehr Stolz hatte als das amerikanische. Natürlich strahlen wir mehr Stolz aus oder spielen ihn vor, aber es gibt definitiv mehr, die ihre Militärzeit nur als Job sehen. Oder sogar als Fehler.
Datenspuren der Großkonzerne und die Zukunft von Social Media
Als Sie zur öffentlichen Figur wurden, drehte sich alles um die Fragen, was der Staat weiß, was die Geheimdienste wissen. Inzwischen empfinden es viele Menschen als ebenso bedrohlich, was Konzerne wie Google, wie Amazon, wie Facebook wissen.
Ich würde sagen, es gibt nicht mehr viele Geheimnisse. Regierungen, Konzerne und jeder Einzelne hinterlassen eine so breite Datenspur, dass es eher darum geht, die wertvolle Information von denen zu trennen, die falsch oder irrelevant sind. Wir brauchen heute keine Whistleblower, sondern Faktenchecker.
Sind Firmen, die die gewaltigen Datenmassen handhaben können, inzwischen die größte Gefahr?
Der Privatsektor hat auf jeden Fall seine Fähigkeit massiv erhöht, Information zu sammeln und sie zu etwas Wertvollem zu machen. Und gleichzeitig wendet sich der Staat dahin. Anders als zur Zeit des NSA-Skandals muss er keine große Überwachungsinfrastruktur mehr aufbauen – heute verlängert er seine Finger einfach in die bestehende private Infrastruktur. Die Menschen scheinen vorsichtiger mit dem umzugehen, was sie veröffentlichen.
Was bedeutet das für die Zukunft von Social Media?
Aus meiner Sicht haben soziale Medien ihren Zenit überschritten. Social Media ist eine Industrie, die ewiges Wachstum benötigt, denn nur so kommt sie an Investments – auch ohne tragfähiges Geschäftsmodell. Die Corona-Zeit war eine Übergangsphase, in der die Menschen ins Internet gezwungen worden sind, wovon soziale Medien profitiert haben. Das führt dazu, dass es in diesem Feld kaum noch Wachstum gibt. Ohne Wachstum geraten Firmen, die ihre Dienstleistung nicht monetarisieren können, schnell an eine Grenze. Bei Twitter war das offensichtlich – schon vor dem Einstieg von Elon Musk.
Was macht das mit den Nutzerinnen und Nutzern?
Die Leute beginnen zu erkennen, dass ihre Social-Media-Nutzung anstrengend und auch belastend ist. Social Media wirken sich auf die Gesundheit der Menschen aus, sie sind quasi der Tabak unserer Zeit, das Opioid unserer Zeit. Ich glaube, wir werden mehr und mehr über die Langzeitfolgen von Social-Media-Nutzung diskutieren. Und ich sage das als jemand, der in diese Falle getappt ist.
Whistleblower Snowden und das Verhältnis zu Russland
Denken Sie, heute könnten wir einen Whistleblower gebrauchen, der nicht die Machenschaften der NSA enthüllt, sondern die der Datenkonzerne?
Nein, ich glaube nicht. Heute kann jeder alles Mögliche mit einer Handykamera öffentlich machen. Da hat sich seit 2010 viel am Datenumfeld geändert. Als Zivilistin im Jahr 2022 habe ich mit einem einfachen Laptop mehr Zugang zu den täglichen Vorgängen bei der russischen Invasion in der Ukraine, als ich als Geheimdienstanalyst im Irak 2010 darüber rauskriegen konnte, was im Krieg vor Ort vor sich geht.
In den letzten Jahren konnten einige Whistleblower, die in westlichen Ländern verfolgt wurden, auf Hilfe durch Russland hoffen. Wie Edward Snowden, der in Moskau leben soll. Wie hat sich seine Lage durch den russischen Angriffskrieg verändert?
Ich habe keine Ahnung. Wir sind nicht in Kontakt, ich kenne nur ein paar seiner Anwälte, aber nicht ihn selbst. Ich mache mir Sorgen um ihn, wie es ihm in Russland geht, gerade nach der Invasion in der Ukraine.
Denken Sie, er hat sich entschieden, in Russland zu bleiben, weil er gesehen hat, was Ihnen zustieß?
Das hat er zumindest so gesagt. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommen würde, er konnte es zumindest an meinem Beispiel ahnen.
Ihnen war nicht klar, dass Sie im Gefängnis landen könnten?
Niemand konnte diese extreme, irrationale Reaktion der US-Regierung vorhersehen. So etwas hatte es nie zuvor gegeben.
Wikileaks-Gründer Julian Assange ist wegen der Veröffentlichungen von 2010 angeklagt. Er sitzt im Gefängnis in London, ihm drohen bei einer Auslieferung an die USA und einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Haben Sie Kontakt zu ihm aufgenommen?
Nein, nein, nein, definitiv nicht. Eine Mannschaft an Anwälten hat mich dringend angehalten, keinerlei Austausch mit ihm zu haben.
Obamas hartes Vorgehen gegen Whistleblower
Auch Barack Obama hat eine wichtige Rolle in Ihrem Leben gespielt, im Guten wie im Schlechten.
Wieso im Schlechten? Er hat mein Urteil umgewandelt und mich freigelassen. Obama hat mir die Chance zu leben gegeben.
Aber es war doch seine Regierung, die so hart gegen Whistleblower aus Militär und Staat vorging. Unter ihm sind mehr Whistleblower als Spione verurteilt worden als unter allen vorhergehenden Präsidenten zusammen.
Ich halte auch das für eine Verlängerung der Bush-Regierung. Die US-Regierung war vom 11. September 2001 bis zu den Donald-Trump-Jahren und zum Teil bis heute, in diesem Rückschritt.
Haben Sie Obama je getroffen? Oder persönlich gesprochen?
Nein, aber ich habe ihm natürlich öffentlich gedankt. Ich sehe es so: Er ist ein Risiko eingegangen. Es hätte sein politisches Erbe beschädigen können, indem er das in seinen letzten Tagen im Amt getan hat. Für ihn wäre es leichter und sicherer gewesen, mich nicht vorzeitig zu entlassen.
Wollte er nicht eher sein Erbe aufbessern? Dieses harte Vorgehen gegen Whistleblower wie Sie war doch eher ein Fleck auf seinem Erbe.
Zu diesem Zeitpunkt hat man das vielleicht in Europa so gesehen. Aber es gab Stimmen in seiner Regierung, die die Haftverkürzung für mich als riskanter für sein Erbe sahen. Zumal ich so noch so jung war, als er das tat. Und ich habe nun definitiv das Gefühl, alles was ich künftig tue, könnte einen Einfluss auf sein politisches Erbe haben.