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Schulschließung wegen CoronaMutter in NRW: „Irgendwann war alles nur noch furchtbar“

Lesezeit 6 Minuten
Mutter über Corona-Anstrengungen

Nele Flüchters Familie litt unter dem Lockdown im Frühjahr: „Irgendwann war alles nur noch furchtbar.“

Düsseldorf – So etwas wie im Frühjahr wollte Nele Flüchter nicht noch einmal erleben. Der erste Lockdown in Deutschland nach Beginn der Corona-Pandemie brachte ihre Familie an den Rand der Erschöpfung, erzählt sie. Vater und Mutter im Homeoffice, der Sohn, damals in der zweiten Klasse, habe psychisch schwer darunter gelitten, dass er seine Freunde nicht treffen durfte. Durch den Distanzunterricht habe er sich immer weiter von der Schule entfernt, war kaum noch zu motivieren. Die Tochter, Kita-Kind, durfte anfangs nicht in die Notbetreuung, weil weder Flüchter noch ihr Mann als systemrelevant eingestuft wurden. Stress, Frustration, mangelnde Perspektive. „Irgendwann war alles nur noch furchtbar.“

Nele Flüchter, 38, hat dafür gekämpft, dass sich das nicht noch einmal wiederholt. Im vergangenen Jahr hat die Berufsschulpädagogin aus Düsseldorf die Initiative „Familien in der Krise“ mitgegründet, die mittlerweile in fast allen Bundesländern vertreten ist. Sie hat eine Petition gestartet, in der sie die Öffnung von Schulen und Kitas fordert. „Bildung ist systemrelevant“, sagt Flüchter. Schul- und Kitaschließungen dürften immer nur das allerletzte Mittel sein.

Nele Flüchter: Der Politik droht eine Welle der Wut

Nun aber stehen den Flüchters und allen anderen Familien in Deutschland erneut harte Wochen bevor. Am Mittwoch hat die Landesregierung verkündet, die Maßnahmen aus der Vorweihnachtszeit noch einmal zu verschärfen: Die Schulen bleiben geschlossen, die Kinder werden auf Distanz unterrichtet, in den Kitas wird notbetreut. Flüchter ist fassungslos. „Für mich ist das inakzeptabel. Ich bin absolut enttäuscht.“ Die Politik könne sich darauf einstellen, dass in den nächsten Wochen eine Welle der Wut auf sie zurollen werde.

Das Problem von Schulschließungen sind nicht allein fehlende Betreuung, ausbleibende Bildung und Chancengerechtigkeit. „Die Kinder verkümmern“, sagt Flüchter, die viele Jahre in der Jugendhilfe gearbeitet hat. Schon während des ersten Lockdowns stiegen die Zahlen frustrierter Kinder und Jugendlicher. Studien und Fachärzte berichten davon, dass die Corona-Krise manche Probleme signifikant verstärkt habe: Einschlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen, eskalierender Streit in der Familie. Anonyme Beratungsanbieter wie die Jugendnotmail verzeichneten zwischen März und Oktober einen Anstieg von 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Top-Themen: Depression, Gewalt, Einsamkeit, Angst vor dem Abgehängtwerden.

Der Familienbund der Katholiken warnt vor dem Entstehen einer „Lost Generation“ von Kindern und Jugendlichen. „Eine Politik, die die Corona-Pandemie in den Griff bekommen will, ohne Kinder und Jugendliche angemessen zu beachten, gefährdet die Zukunftschancen einer ganzen Generation", sagte Präsident Ulrich Hoffmann am Dienstag. „Kitas und Schulen weiter zu schließen, bedeutet, Kindern und Jugendlichen eine ihrer wichtigsten Entwicklungsgrundlagen zu nehmen“, so Hoffmann. Ein menschenwürdiges Aufwachsen sei für Kinder und Jugendliche gleichbedeutend mit der Chance zu lernen, mit dem Recht auf Bildung und dem Leben sozialer Beziehungen. Weiter betonte Hoffmann, wer Kitas und Schulen schließe, müsse auch klare und akzeptable Alternativen für Kinder, Jugendliche und Eltern formulieren und umsetzen. Diese Antworten bleibe die Politik seit Beginn des ersten Lockdowns vor fast einem Jahr schuldig.

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Die Landesregierung scheint zumindest einige Appelle erhört zu haben. Eltern dürfen nun zusätzliche Kinderkrankentage in Anspruch nehmen, um Homeschooling und Betreuung zu meistern. „Ich gehe davon aus, dass wir das so machen werden“, sagt Flüchter. Allerdings werde das zweifellos zu weiteren Problemen führen. Sie arbeitet für einen Bildungsträger. Etwa 90 Prozent ihrer Kolleginnen seien Mütter mit kleinen Kindern. „Wenn die jetzt alle gleichzeitig Kinderkrankentage einreichen, wird der Arbeitgeber bestimmt nicht erfreut sein.“

Flüchter ist enttäuscht von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer

Enttäuscht ist Flüchter von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer. Bis zuletzt hatte die FDP-Politikerin geradezu apodiktisch offene Schulen und den Präsenzunterricht verteidigt. Und genauso zuverlässig hat sie der Empörung in den sozialen Netzwerken getrotzt. Der Hashtag #GebauerRücktritt trendete in den vergangenen Wochen auf Twitter beinahe häufiger als der Name Donald Trump. Flüchter hatte darauf gebaut, dass Gebauer standhaft bleibt. Nun aber sei sie eingeknickt, kritisiert Flüchter. „Aus meiner Sicht hat die Landesregierung ein Versprechen gebrochen.“

Allerdings hatte sich Gebauer in eine unangenehme Lage manövriert. Kritiker werfen ihr vor, sie habe die vielen Ferienwochen seit Pandemiebeginn weitestgehend ungenutzt verstreichen lassen. Den Vorwurf der Ideenlosigkeit konnte Schulministerin Gebauer bislang kaum entkräften. Hier und da wurde an Schulen zwar an der Digitalisierung geschraubt, meist aber auf eigene Initiative von engagierten Lehrern und selten auf Betreiben der Landesregierung. Mehr als die Worte Maske und Stoßlüften als Konzept für die Beibehaltung des Präsenzunterrichts war da nicht zu hören. Die anfangs angekündigte Ausstattung mit Raumlüftern hat nie stattgefunden. Anregungen für Hybridunterricht und Klassenteilungen wurden ebenso vom Tisch gefegt wie der Vorschlag, Lehramtsstudenten einzubinden oder Schnelltests an Schulen anzubieten. „Die Unterstützung des Ministeriums hat sich zum Ende des Jahres zwar verbessert“, sagt eine Kölner Schulleiterin. „Aber ich bin schon entsetzt darüber, dass es überhaupt keine langfristige Krisenstrategie zu geben scheint.“

Es gibt Länder, die sind schlechter dran als Deutschland. Aber es gibt auch einige, die es mutmaßlich besser machen. Die Iren beispielsweise mussten in diesem Winter zum zweiten Mal einen Lockdown hinnehmen, der weitaus härter ist als der in Deutschland. Dort darf man weder Freunde noch Familie treffen, sich in der Freizeit nicht weiter als fünf Kilometer von seiner Wohnung entfernen. Doch Kinder und Jugendliche dürfen weiterhin in Kitas und Schulen gehen. Die Iren haben Schulstart und Pausenzeiten gestaffelt und somit auch den Betrieb in den Schulbussen entzerrt. „Das ist doch ein Modell, an dem man sich orientieren könnte“, sagt Nele Flüchter. „Wieder mehr Erwachsene ins Homeoffice und Kinder zurück in die Schulen.“

Lauterbach: „Das ist sehr bitter für die Kinder“

Die Idee, Erwachsene maximal einzuschränken, um Kindern ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, findet auch Flüchter gut. Doch so einfach ist es offenbar nicht. Noch immer ist nicht genau geklärt, wie ansteckend Kinder und Jugendliche überhaupt sind. Obendrein grassiert ein Corona-Mutant, der die Ausbreitung des Virus noch einmal beschleunigen könnte. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte sich am Montag noch einmal deutlich gegen eine Öffnung von Schulen ausgesprochen und auf eine Erhebung aus Großbritannien verwiesen. Demnach sind es vor allem die 12- bis 16-Jährigen, die das Virus verbreiten. Zudem würde diese Altersgruppe doppelt so häufig andere Familienmitglieder anstecken als Jugendliche, die 17 Jahre und älter sind. „Das ist sehr bitter für die Kinder“, schreibt Lauterbach. Bei Grundschulen könnte man wegen der günstigeren Infektionsdaten jüngerer Kinder über Ausnahme nachdenken, aber auch das sei „leider riskant.“ Offenbar hat man ihn erhört.

Nele Flüchter dagegen sieht es eher wie das Europäische Zentrum für Krankheitsprävention und -kontrolle. Die Behörde hat Ende Dezember eine Studie veröffentlicht, in der sie Schulschließung als letztes Mittel bezeichnet. Die Wissenschaftler kommen in ihrer Analyse zu dem Schluss: „Die negativen physischen, psychischen und pädagogischen Auswirkungen proaktiver Schulschließungen auf die Kinder sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft im weiteren Sinne würden wahrscheinlich die Vorteile überwiegen.“

Flüchter jedenfalls ist am Ende ihrer Kräfte wie sie sagt. Die ständige Bedrohung durch Schul- und Kitaschließungen hätte sie zermürbt. Ein wenig fürchtet sie sich, ihrem inzwischen neunjährigen Sohn die Neuigkeiten zu überbringen. „Er wird sehr traurig sein. Er hätte so gerne wieder normalen Unterricht gehabt.“