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„Dem System ausgeliefert“Ex-Heimkinder setzen sich gegen sexuellen Missbrauch ein

Lesezeit 3 Minuten
Kinderschuhe

Symbolbild

  1. Illegale Medikamententests, Züchtigung, sexueller Missbrauch: In Heimen sind über die Jahrzehnte zahlreiche Kinder zu Opfern geworden.
  2. Vor dem NRW-Landtag wollen ehemalige Heimkinder sich mit einer Großdemonstration für besseren Schutz einsetzen.

Düsseldorf – Das Büro der „Community ehemaliger Heimkinder“ in Mönchengladbach ist derzeit vollgepackt mit Utensilien, die auf die Verladung warten. Warnwesten, Absperrbänder, ein Megafon, Hygienemittel und jede Menge Flyer. „Wer schützt unsere Kinder?“, steht darauf. Der Verein bereitet eine Großdemonstration vor dem Landtag gegen den sexuellen Missbrauch von Jungen und Mädchen in NRW vor. „Wir wollen, dass den Opfern bestmöglich geholfen wird“, sagt Organisator Uwe Werner im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Das Schicksal, das wir erleiden mussten, darf sich nicht wiederholen“, fügt der 68-Jährige hinzu.

Defizite beim Opferschutz

Werner gehört zu den Gründern des Zusammenschlusses der ehemaligen Heimkinder in NRW. Rund 150 Mitglieder hat der Verein, der sich zur Aufgabe gemacht hat, den Opfern der Heimunterbringung zu helfen. Viele Kinder, die in den 1960er Jahren als verhaltensauffällig galten, wurden zu Testzwecken Medikamente eingeflößt. Untersuchungen ergaben, dass mindestens 80 Versuchsreihen mit Psychopharmaka, Antidepressiva, Schlaftabletten, Neuroleptika, Impfstoffen und Beruhigungsmitteln an Heimkindern durchgeführt wurden. Weder der Staat, noch die oft kirchlichen Träger fanden das Zusammenspiel von Heimärzten und Pharmaindustrie verwerflich. Oft hatten Ärzte und Psychiater das Sagen, die schon in der Zeit des Nationalsozialismus praktiziert hatten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Skandals hat erst vor wenigen Jahren Fahrt aufgenommen.

Die meisten der Betroffenen leiden bis heute an den Folgen der Medikamentenversuche. Nicht selten wurden die wehrlosen Kinder körperlich gezüchtigt und Opfer von sexuellem Missbrauch. „Viele hatten keine Angehörigen, die ihnen hätten helfen können. Sie waren dem System ausgeliefert, wurden sediert und als Schwachköpfe abgestempelt“, sagt Uwe Werner. Die wenigsten schafften es, im Leben Fuß zu fassen. „Die Opfer tragen oft eine große Scham mit sich herum. Viele können weder lesen noch schreiben. Es fällt ihnen schwer, Beziehungen zu führen und über Probleme zu reden. Eine psychologische Behandlung der Traumata fand nie statt“, beklagt Werner. Bei Renten und Ausgleichszahlung müssten die Betroffenen um jeden Cent erbittert kämpfen.

Uwe Werner und Dr. Sylvia Wagner

Uwe Werner und Dr. Sylvia Wagner von „Community ehemaliger Heimkinder“ (Archivbild)

Nach den Missbrauchsskandalen von Lüdge, Bergisch Gladbach und Münster wollen die Heimkinder jetzt mit ihrer Demonstration am Freitag auf die Defizite beim Opferschutz hinweisen. Die bisherigen Initiativen hält der Verein für nicht ausreichend. Werner fordert, dass Opfern von sexuellem Missbrauch umgehend ein Pflichtverteidiger vom Staat an die Seite gestellt wird. „Die Betroffenen und ihre Familien sind oft nicht in der Lage, ihre Rechte durchzusetzen“, sagt der 68-Jährige. Die Interessen der ehemaligen Heimkinder sollten an einem runden Tisch mit Kirchen, Landschaftsverbänden und den Fachpolitikern der Landtagsfraktionen reguliert werden. Vorstellbar seien eine Einmalzahlung von 20 000 Euro oder eine lebenslange monatliche Rente von 300 Euro.

Josef Neumann, Gesundheitsexperte der SPD im Landtag, versteht die Anliegen: „Mit Geld ist dabei nichts mehr gut zu machen, aber es zeigt, dass Entschuldigungen auch ernst gemeint sind. Das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Kirchen.“