Fünf „frappierende Parallelen“Putin regiert wie einst Iwan der Schreckliche
Ob er bitte zurückrufen könne, es sei wirklich „sehr dringend“. So lautete dieser Tage eine der vielen Anfragen von Journalisten aus aller Welt bei dem britischen Historiker Mark Galeotti (57). Eile, fast Atemlosigkeit, erleben Geschichtswissenschaftler selten. Galeotti aber hat ein Spezialgebiet, das rund um den Globus gerade sehr gefragt ist: das russische Militär in Vergangenheit und Gegenwart.
Dieser Tage wollten unter anderem die „Washington Post“ und der US-Sender NBC von Galeotti schnell wissen, was wohl die jüngste Personalentscheidung Wladimir Putins zu bedeuten habe: Wieso hat der russische Staatschef jetzt General Alexander Dwornikow zum neuen Oberbefehlshaber für die Invasion in der Ukraine gemacht?
Brutalität als Jobanforderung
Galeotti zeigte sich nicht überrascht, er kennt seine Generäle. Dwornikow sei ein „heavy hitter“, eines der ganz großen Schwergewichte in der russischen Armee, innovativ bei der Nutzung von Technologien, effizient beim Einsatz verschiedener Teilstreitkräfte – „und brutal zugleich“. Das alles habe Dwornikow schon als Kommandeur des russischen Luftkriegs in Syrien bewiesen.
In Aleppo setzten die Russen bekanntlich thermobarische Waffen ein, die den Menschen noch im Keller die Luft aus den Lungen saugen. Hilfsorganisationen klagten in Syrien auch über wiederholte Angriffe auf Kliniken. Mitunter ließen russische Bomber noch mal deren Trümmer tanzen, um der Zivilbevölkerung ein unmissverständliches Zeichen zu geben, dass es nun wirklich Zeit ist, die Region zu verlassen.
Gehört solche Brutalität, auch gegenüber Zivilisten, bei russischen Generälen zu den Jobanforderungen? Wirkt sie gar karrierefördernd?
Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland bejaht Galeotti dies ausdrücklich. Für Dwornikow, bereits Träger des „goldenen Sterns des Helden Russlands“, könne es in absehbarer Zeit sogar noch weiter aufwärts gehen: „Wenn Dwornikow die Ukraine-Mission für Putin erfolgreich durchzieht, wird man ihn bald als Nachfolger von Waleri Gerassimow sehen“. Gerassimow ist derzeit Chef des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation: Putins oberster Soldat.
Eine Tradition der Grausamkeit
Etwas Bitteres, Unbehagliches bleibt bei all dem hängen. Wie kann es eigentlich sein, dass im 21. Jahrhundert ein Staat wie Russland, der doch eigentlich auch modern sein will, so sehr auf Grausamkeit setzt?
Da gebe es leider eine gerade Linie in der russischen Geschichte, sagt Galeotti – und geht mal eben fünf Jahrhunderte zurück: Schon Iwan der Schreckliche (1530-1584), Russlands erster Zar, habe nach außen durch immer neue Kriege und nach innen durch ein Regime der Angst seine Macht gefestigt und sein Reich vergrößert.
Die Parallelen zum heutigen System Putin seien unverkennbar, sagt Galeotti – und ist auf einmal in seinem Element. Vor wenigen Tagen erst hat er die traurige Tradition furchtbarer Herrscher in Moskau zum Thema seines Podcasts „In Moscow‘s Shadows“ gemacht.
Iwan der Schreckliche? Schulkindern begegnet der hochgewachsene Herrscher beim Blättern im Geschichtsbuch stets mit langem Bart, langem Mantel und einem mehr als finsteren Blick. Viele schütteln den Kopf über die düstere Gestalt.
Tatsächlich aber ist Iwan der Schreckliche nicht irgendeine kuriose Randfigur, sondern der Gründervater Russlands. Als erster Großfürst von Moskau erhob Iwan IV. Mitte des 16. Jahrhunderts einen Machtanspruch auf ganz Russland – und setzte ihn mit Gewalt durch.
Beide sind als Reformer gestartet
Anfangs, betont Galeotti, sei der Schreckliche gar nicht so schrecklich gewesen. Iwan IV. habe Reformen durchgeführt und vieles in Russland moderner gemacht – „darin liegt eine der vielen frappierenden Parallelen zu Putin“. Nach und nach aber sei dann alles ins Monströse abgeglitten.
Galeotti ist nicht ganz allein mit seinen Betrachtungen. Schon seit einigen Jahren weisen etwa die amerikanischen Russland-Kenner Stephen Kotkin und Dina Khapeava in die gleiche Richtung: Putin zeige in zunehmendem Maß ein Denken wie Iwan IV.
Mittlerweile fallen, ob man Praktisches oder Theoretisches betrachtet, tatsächlich fünf Parallelen ins Auge.
1. Abschnüren von Zivilisten in ihren Städten
In der Schlacht gegen Kasan (1552) machte Iwan IV. die Zivilbevölkerung massenhaft zu Geiseln und zu Leidtragenden. Seine Truppen schnitten alle Versorgungswege ab, ließen die Einwohner hungern und dursten und beschossen mit ihren Kanonen zivile Häuser, bis alles in Trümmern lag. Praktiken dieser Art sind heute nach geltendem Völkerrecht verboten. Die russische Armee aber ging in der Ukraine exakt nach dem Muster aus dem 16. Jahrhundert vor. Russische Soldaten zerstörten ganze Wohnviertel und schnürten sie von jeglicher Versorgung ab. In Mariupol tranken Menschen zeitweise geschmolzenen Schnee, um nicht zu verdursten.
2. Massenmord an wehrlosen Menschen
Iwan dem Schrecklichen genügte nicht der bloße militärische Sieg über feindliche Soldaten, er ließ auch Zivilisten massenhaft niedermetzeln – als Warnung an die Überlebenden und als Zeichen eigener Überlegenheit. In Orten, die jetzt in der Ukraine von russischen Truppen nach wochenlanger Besetzung verlassen wurden, sah es genauso aus. Hunderte Leichen wurden gefunden, oft links und rechts der Straßen. Ein Anwohner berichtet in der mehr als beklemmenden Reportage der „New York Times“ über „Butschas Monat des Terrors“, die russischen Truppen hätten auf alles geschossen, „auf Häuser, auf eine Frau auf der Straße, auf Hunde“. Unbekleidete tote Frauen wurden zum Verbrennen aufeinander geschichtet, ein ermordeter Bürgermeister wurde in einen Brunnen geworfen – auch der verächtliche Umgang mit Leichen entspricht Praktiken des 16. Jahrhunderts.
3. Krieg, Krieg und nochmals Krieg
Iwan IV. hörte nie auf, Krieg zu führen – dies half ihm, seine Autorität auch im Inneren zu festigen. Dabei halfen seine gefürchteten Geheimpolizisten, die Opritschniki. Putin hielt es genauso. Schon 1999, im ersten Amtsjahr als Ministerpräsident, gab der gelernte KGB-Agent den Befehl zum Einmarsch in Tschetschenien. Vorausgegangen waren angebliche tschetschenische Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser, die Putin vermutlich selbst inszenieren ließ. Stets betonte Putin eine Bedrohung von außen, der man zuvorkommen müsse. 2008 befahl Putin einen Einmarsch in Georgien, 2014 die Besetzung der Krim, 2015 mörderische Luftangriffe in Syrien. 2018 brüstete er sich mit Hyperschallwaffen, bei denen Russland gegenüber dem Westen die Nase vorn habe. Im Januar 2022 schickte er Luftlandetruppen nach Kasachstan und Panzer nach Belarus. Am 24. Februar befahl er in der Ukraine den Beginn der größten Landschlacht seit 1945.
4. Der Traum vom „dritten Rom“
Schon im Jahr 2017 schlug die amerikanische Russland-Expertin Dina Khapeava in einem leider nur von Fachleuten beachteten Aufsatz („Putins mittelalterliche Träume“) Alarm: In Moskau lauere ein gefährlicher Ultranationalismus, der das Land allen Ernstes fünf Jahrhunderte zurückwerfen könne. Zuvor war in der Stadt Orel das erste Denkmal des Landes für Iwan den Schrecklichen enthüllt worden. Khapeava verwies auf den faschistischen russischen Mystiker Alexander Dugin und dessen „Eurasianismus“. Danach soll Moskau – nach dem Untergang des Römischen Reichs und Konstantinopels – das „dritte Rom“ werden, die neue Machtzentrale, die quer durch Europa und bis nach Asien das Sagen hat. Tatsächlich trieb schon Iwan den Schrecklichen die gleiche Vision.
5. Das Bündnis mit der orthodoxen Kirche
Die orthodoxe Kirche in Russland steht heute wie vor 500 Jahren auf der Seite der Gewaltherrschaft. Der derzeitige russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. lobte bereits im Jahr 2016 das Tyrannendenkmal für Iwan IV. in Orel. In seinen jüngsten öffentlichen Gebeten rief Kyrill seine Landsleute dazu auf, sich hinter Putin zu stellen: „Möge der Herrgott uns helfen, uns zu vereinen, auch um die Staatsorgane herum.“
Bereits zu Zeiten Iwans des Schrecklichen gab es ein sehr gutes Einvernehmen zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und einem Massenmörder im Kreml, der zum Beispiel allein in der reichen Handelsstadt Nowgorod Zehntausende Menschen hatte niedermetzeln lassen. Moskaus Dominanz half beim Eintreiben von Geld. Russlands Geistliche blickten aufs Materielle, vor allem auf die 1561 vollendete wunderbar bunte Basiliuskathedrale, die Iwan der Schreckliche für sie erbauen ließ.
Auch russlandferne Menschen im Westen kennen das Bauwerk, man sieht es jetzt gerade öfter in der „Tagesschau“. Es ist ein Wahrzeichen Moskaus, ein Stück russischer Identität.