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Kommentar

Ganztagsbetreuung
In NRW droht Bildung nach Kassenlage

Lesezeit 5 Minuten
Durch das Ganztagsförderungsgesetz des Bundes vom 2. Oktober 2021 wurde ab dem Jahr 2026 ein stufenweise aufwachsender Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter begründet.

Durch das Ganztagsförderungsgesetz des Bundes vom 2. Oktober 2021 wurde ab dem Jahr 2026 ein stufenweise aufwachsender Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter begründet.

Professorin Angela Faber, Expertin für Bildungsrecht, wirft der NRW-Regierung vor, beim Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen zu tricksen.

Eine gute ganztägige Bildung und Betreuung nicht nur für Kleinkinder, sondern auch für Kinder im Grundschulalter gilt als zentrales Anliegen der Bildungspolitik. Durch das Ganztagsförderungsgesetz des Bundes vom 2. Oktober 2021 wurde ab dem Jahr 2026 ein stufenweise aufwachsender Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter begründet. Der Koalitionsvertrag von CDU und Grünen in Nordrhein-Westfalen für die Jahre 2022 bis 2027 nimmt darauf Bezug und hält fest: „Die Umsetzung des Rechtsanspruchs bleibt eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Land und Kommunen. Bei diesem wollen wir den Dreiklang von Bildung, Betreuung und Erziehung umsetzen. Durch eine schulrechtliche Verankerung und im Rahmen eines Landesausführungsgesetzes stärken wir die Qualität des Ganztags.“

Anfang Juli wurde bekannt, dass die Landesregierung den im Koalitionsvertrag genannten Plan einer schulrechtlichen Verankerung und eines eigenen Landesgesetzes fallengelassen hat. Sie will die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung und Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe stattdessen per Erlass regeln. Dies bedeutet, dass Schwarz-Grün erstens in dem wichtigen Feld der Ganztagsbetreuung vom Koalitionsvertrag abrückt, wofür es – soweit mir ersichtlich – an einer überzeugenden Begründung fehlt.

Professorin Angela Faber

Professorin Angela Faber

Das bedeutet zweitens aber auch, dass die finanzverfassungsrechtlichen Schutz- und Finanzierungsmechanismen nicht greifen, welche die Landesverfassung nach dem „Konnexitätsprinzip“ bei einer Aufgabenübertragung auf die kommunalen Schul- und Jugendhilfeträger zu deren Schutz vorsieht. Das Konnexitätsprinzip besagt, dass das Land die Kosten erstatten muss, die den Kommunen durch Aufgaben entstehen, die ihnen vom Land durch Gesetz oder Verordnung aufgebürdet werden.

Das heißt: Das Konnexitätsprinzip greift nicht, wenn das Land – wie im hier behandelten Zusammenhang - zur Umsetzung des bundesrechtlich vorgesehenen Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung die Form des Erlasses wählt. Der Städtetag und der Städte- und Gemeindebund beklagten daher bereits im Sommer zu Recht, dass das Land die finanzielle Verantwortung für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung scheue.

Was für ein Gemeinwesen wesentlich ist, gehört in ein Gesetz.
Professorin Angela Faber

Am Mittwoch, 6. November 2024, werden im Düsseldorfer Landtag im Rahmen einer Anhörung des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend die unterschiedlichen Positionen zu diesem Thema ausgetauscht. Die einen – zum Beispiel die Landeselternschaft Grundschulen NRW e. V., fordern Raum-, Personal- und Qualitätsstandards, die am Bedarf der Kinder orientiert sind. Die anderen, etwa die kommunalen Spitzenverbände, beklagen die dysfunktionalen Regelungen von Zuständigkeiten der Jugendhilfe- und Schulträger, den Verzicht auf eine gesetzliche Umsetzungsregelung und die Nichtberücksichtigung der Besonderheiten von Förderschulen. Fast alle zur Anhörung Geladenen aber monieren das Finanzierungsdefizit der Offenen Ganztagsschulen und verlangen eine Aufstockung der Mittel.

Kaum jemand wird anzweifeln, dass die Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine Ganztagsbetreuung für Schülerinnen und Schüler an Grundschulen eine wesentliche bildungspolitische Weichenstellung ist. Schon deshalb wäre die Ebene des Landesgesetzes die richtige Wahl gewesen, so wie es NRW-Koalitionsvertrag im Jahr 2022 vorsah. Was für ein Gemeinwesen wesentlich ist, gehört in ein Gesetz.

Das Land gefährdet die Bildungschancen ganzer Jahrgänge.
Professorin Angela Faber

Das Fehlen eines gesetzlich gesicherten Finanzierungsmechanismus wird dazu führen, dass angekündigte Landeszuschüsse jenseits eines Rechtsanspruchs fließen. Und sollten diese – was zu befürchten ist - nicht auskömmlich sein, wird das zu einer großen Bildungsungleichheit vor Ort führen. Die Qualität des Rechtsanspruchs dürfte dann von der Kassenlage der jeweiligen Kommune abhängen. Eine derartige Bildungsungleichheit ist bereits jetzt in den Bereichen der Kitas und der Offenen Ganztagsschulen, der Inklusion und der Digitalisierung zu beobachten. Die Schieflage wird nun auf den Bereich der Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter ausgedehnt. Die berechtigte Sorge ist also, dass in Zukunft Kinder zu einem wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit in viel zu kleinen und schlecht ausgestatteten Räumen, ohne qualifizierte Förderung und Betreuung „verwahrt“ werden.

Die vom Land gewählte Form zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung gefährdet die Bildungschancen ganzer Jahrgänge, die Bildungsgerechtigkeit und damit die Zukunftsfähigkeit eines Landes, für das die Koalitionspartner 2022 doch ausdrücklich einen „Zukunftsvertrag“ geschlossen haben. Was jetzt droht, ist Bildung nach Kassenlage der Städte und Gemeinden. Um das zu verhindern, sollte die Regierung im Sinne ihrer eigenen vertraglichen Vereinbarungen umsteuern.

Bisher gibt es für Förderschülerinnen und -schüler kaum Ferienfreizeiten.
Professorin Angela Faber

Auf einen weiteren Gesichtspunkt, der bisher kaum wahrgenommen wird, soll noch hingewiesen werden. Die für die Umsetzung des Rechtsanspruchs verantwortlichen Länder sollen eine Schließzeit der Betreuungseinrichtungen während der Schulferien regeln können – in einem Umfang von bis zu vier Wochen im Jahr. Dies gilt – wie bereits der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung – auch für Förderschülerinnen und -schüler. Alles andere widerspräche der UN-Behindertenrechtskonvention, der zufolge Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt an Spiel-, Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten teilnehmen können. Bisher gibt es für Förderschülerinnen und -schüler – insbesondere in den aufgrund des Schulgesetzes regelhaft gebundenen Ganztagsschulen mit den Förderschwerpunkten körperliche und motorische Entwicklung sowie geistige Entwicklung – kaum Ferienfreizeiten.

Die geltende Landesförderung ist finanziell unzureichend, da sie die Kosten für Pflege- und Assistenzleistungen und einen Schülerspezialverkehr nicht hinreichend berücksichtigt. Bei einer nur einheitlich denkbaren zukünftigen Regelung der Schließzeiten von Grund- und Förderschulen muss das Land daher eine auskömmliche finanzielle Unterstützung für Förderschülerinnen und -schüler in seine Planungen einstellen. Alles andere wäre eine Diskriminierung, die weder mit dem Grundgesetz und der Landesverfassung noch mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar wäre.

Sehr viele Förderschülerinnen und -schüler haben bereits heute kaum eine Chance auf Teilnahme an einer Ferienfreizeit. Oft sitzen sie isoliert von Gleichaltrigen zu Hause. Ihre Eltern kämpfen zu Recht für eine gleichberechtigte Teilhabe ihrer Kinder.


Die Autorin

Angela Faber ist Juristin mit einem Schwerpunkt in Fragen des Bildungsrechts. Sie hat eine außerplanmäßige Professur an der Juristischen Fakultät der Universität Münster inne.