Gastbeitrag Ukrainerin„Der Krieg kann nicht mit Gebeten und Hoffnung gewonnen werden“
- Die Ukrainerin Solomia hat den Beginn des Krieges erlebt, hat über Monate in ihrem Heimatland geholfen, Tarnnetze geknüpft, in einem Kriegstagebuch berichtet.
- Jetzt, sechs Monate nach Beginn des Krieges sagt sie: „Früher war ich Pazifistin, jetzt verstehe ich, dass der Krieg nicht allein mit Gebeten und Hoffnung gewonnen werden kann. Wir brauchen Waffen, wir brauchen Vorräte.“
- Erstmals seit der russischen Invasion war sie gemeinsam mit ihrem Mann Michael im Urlaub und kehrt nun in die Ukraine zurück.
- Im Gastbeitrag schreibt sie darüber, wie sich ihre Gefühlslage in sechs Monaten verändert hat und warum sie wie viele ihrer Landsleute in der Ukraine sein will – und gleichzeitig auch nicht.
Lwiw/Köln – Der Sommer ist fast vorbei, aber der Februar ist noch nicht zu Ende. Die Zeit ist am 24. Februar stehen geblieben. Unser Frühling und Sommer müssen erst noch kommen.
Wir haben diesen Ausflug nach Großbritannien seit Monaten aufgeschoben. Hier, in der Ukraine, gab es einfach viel zu viele Dinge zu tun: die Aussaat, das Pflanzen und Ernten, die Autoreparatur, Arbeitsstresst, Katzenimpfung. Ausreden über Ausreden. Tief im Inneren hatte ich die Sorge, dass ich nur widerwillig in die Ukraine zurückkehren würde, nachdem ich ein ruhiges und friedliches Leben gekostet hatte.
Außerdem hatte ich Angst, dass ich nur schwer in die entspannten, lächelnden Gesichter der Menschen aus dem Westen schauen könnte, die sich in ihr gemütliches Schneckenhaus zurückziehen können.
Ist es richtig, das Land zu verlassen?
„Wann kommt ihr rüber?“, fragten Michaels Eltern (Anm. d. Red.: Solomias Ehemann Michael stammt aus England) wieder und wieder. „Wir brauchen die genauen Daten, damit wir euch ein Hotel buchen können.“
„Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht! Unter den jetzigen Umständen können wir keine sicheren Pläne machen. Morgen könnten die Grenzen schon geschlossen sein, ich werde vielleicht nicht ins Land gelassen oder wir sind schon tot.“ Bestürzt erkannte ich, dass es Leuten mit ihren eingefahrenen Routinen schwer fällt zu verstehen, dass wir gerade keine Pläne machen und an die Zukunft denken können.
Es musste also ein Roadtrip werden, denn erstens sind die meisten Flughäfen im Land zerstört worden und die paar, die noch da sind, haben keinen Flugverkehr. Zweitens gibt das Autofahren einem die Zeit, nachzudenken und sich anzupassen, was den Übergang erleichtert.
Es gab auch ein moralisches Dilemma: Ist es richtig, das Land zu verlassen, selbst für kurze Zeit, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes blutet? Manche Leute teilen fröhliche Bilder vom Strand an der Küste auf Facebook, andere posten Bilder von Kerzen, um ihre Lieben zu betrauern. Manche sagen, dass es unmoralisch sei, fröhliche Fotos aus Urlaubsorten zu posten, während das Land niedergebrannt wird. Andere argumentieren für ein Recht auf Erholung, um nicht komplett verrückt zu werden.
Die Reise ins Vereinigte Königreich zu Michaels Familie
Als wir in einem Surplus-Shop (Anm. d.Red.: Geschäft, in dem überzählige Armeebestände, vor allem Kleidung, verkauft werden) Wendejacken und Thermokleidung für eine sechsköpfige Gruppe Soldaten gekauft haben, für die mein ukrainischer Freund Ausrüstung bereitstellt, hat es eine Weile gedauert, die richtigen Größen zu finden. Der Ladenbesitzer stellte uns voller Begeisterung ein paar Besuchern vor. Ein älterer Herr nahm sein Portemonnaie heraus und gab uns das einzige Geld, das er dabei hatte: Zwei Fünf-Pfund-Scheine.
„Nehmt es, ich weiß, es ist nicht viel. Tut mir leid, ich hoffe, es hilft ein wenig.“ Ich war erstaunt und auch ein wenig peinlich berührt, denn ich bin es nicht gewohnt, Geld von Fremden zu nehmen. Vielleicht war er selbst einmal Soldat? Eine Million Gedanken schossen mir durch den Kopf, dann dachte ich: „Nimm es, er gibt es dir freiwillig. Vielleicht ist es sein letzter Penny, aber hier ist kein Platz für Schamgefühle, wenn das Land im Krieg ist und der Winter kommt.“
Ich nahm das Geld, dankte ihm und eine warme, energetische Welle der Dankbarkeit floss durch meinen Körper. „Jetzt muss ich zurückgehen und neues Bargeld für mein Mittagessen holen“, lachte der alte Mann.
Ein Paar aus Wales schaute im Laden vorbei und tat dasselbe: Sie gaben uns die zwei 20-Pfund-Scheine, die sie im Portemonnaie hatten, und wünschten uns viel Glück. Ich fühlte mich überwältigt von der vielen Unterstützung und dem Verständnis.
Früher war ich Pazifistin, jetzt verstehe ich, dass der Krieg nicht allein mit Gebeten und Hoffnung gewonnen werden kann. Wir brauchen Waffen, wir brauchen Vorräte. Es ist notwendig, den Zivilisten zu helfen, aber je mehr die ukrainische Armee sich wehren kann, desto weniger Zivilisten werden ihr Zuhause verlieren, verwundet oder getötet werden. Je mehr Waffen, desto früher werden Sieg und Frieden kommen. Jetzt ist die Zeit, die Ursache zu bekämpfen, und nicht nur die Symptome.
Rückkehr in die Ukraine
Je näher wir der polnisch-ukrainischen Grenze kommen, desto eigenwilliger werden die Häuser. Form, Design, Farbe, Dächer aus allen Materialien. „Fühlt sich fast an, wie zuhause“, bemerkt Michael. Im hügeligen Südosten Polens sehen wir eine verlassene Holzkirche mit einer runden Kuppel, die an ukrainische Kirchen erinnert. Dann macht es Klick: In den ersten Nachkriegsjahren wurden eine halbe Million Ukrainer aus Ostpolen deportiert, darunter auch meine Familie. Wir hatten gehofft, die Geschichte würde sich nie wiederholen.
Je näher wir der Grenze kommen, desto mehr ist die bergige Landschaft mit dem Sosnowsky-Bärenklau übersät. Diese invasive Pflanze, die von Stalin versuchsweise als Silagepflanze eingeführt wurde, verursacht beim Menschen Hautausschläge. Als wir die Ukraine verließen, standen die giftigen Blüten in voller Blüte, jetzt, als wir zurückkehren, sind sie verwelkt.
Wir befinden uns noch immer im sicheren Teil der Ukraine, obwohl uns nur eine dünne Linie zum No-Go-Land trennt. Doch wie sicher ist es wirklich? Einschläge von russischen Raketen wurden nur 20 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt registriert. Was, wenn die Raketen noch etwas weiter geflogen wären?
„Willst du nach Hause gehen“, fragte ich Michael.
Er antwortete: „Ja und Nein.“
„Warum nein?“
„Stress, ständiger Fliegeralarm, undichtes Dach“, sagte er knapp.
„Verstehe ich. Und warum ja?“
„Meine Freunde sind dort, die Wohnung, die Gartenlaube, die Katze – am Ende auch all mein Kram“, sagte er.
„Vielleicht hätten wir noch ein paar Tage wegbleiben sollen“, überlegte ich, „die Regierung warnt vor Angriffen auf das Atomkraftwerk, auf ukrainische Großstädte anlässlich des Unabhängigkeitstags und des Jahrestags, als vor sechs Monaten der Krieg begann.“
„Du behauptest, dass du zur Armee gehen willst, aber jetzt lässt du dich von unbegründeten Gerüchten einschüchtern. Außerdem sind unsere Freunde und deine Familie dort. Welches moralische Recht haben wir, weg zu sein, wenn sie es nicht können?“, fragte Michael.
„Aber wenn ich jetzt getötet werde oder von der Strahlung Krebs bekomme, werde ich in Zukunft nicht mehr kämpfen können, und dieser Krieg wird wahrscheinlich nicht mehr in diesem Jahr enden“, entgegnete ich.
Explosionen und der Kater
Kater. Ich vermisse ihn sehr. Während der Reise, als ich mit Heimweh an Zuhause dachte, musste ich oft an den Kater denken. In beunruhigenden Momenten, als die Sirenen heulten, war er buchstäblich zwischen Micahel und mir hin- und hergerissen. Jetzt stelle ich mir vor, wie ich immer wieder mit meinen Fingern durch sein weiches, glänzendes Fell streiche.
Am 17 Mai, mitten in der Nacht, als wir tief und fest in der Gartenlaube schliefen, gab es einen Luftalarm. Plötzlich bebte das ganze Haus. Es gab weitere Explosionen, als wir in nichts als unseren Schlafanzügen in den Keller rannten. In Panik hatten wir uns ausgeschlossen, doch zum Glück war ein Fenster offen, so dass wir in unser eigenes Haus wieder einbrechen konnten. Michael trank einen Wodka aus dem Notvorrat. Er bot mir auch etwas an, aber ich konnte nicht.
„Wo ist der Kater?“ Als die Explosionen kamen und wir nach unten eilten, hatten wir ihn vergessen. Doch er saß ganz ruhig auf einem Stuhl, als ob nichts geschehen wäre. Normalerweise fürchtet er sich vor allem und jedem, aber die russischen Raketen machten ihm keine Angst. Sei wie der Kater, sagte ich mir. In dieser Nacht wurden alle Raketen rund um Lwiw von den ukrainischen Streitkräften abgeschossen, einige ganz nah an unserer Laube.
Bis vor vier Wochen ließ mich jedes laute Geräusch aufschreien und aufspringen. Ich hörte Geistersirenen und Explosionen. Jetzt bin ich völlig ruhig und sogar fröhlich. An einem der letzten Abende hatte ich sogar Lust zu tanzen. Wir Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit, uns gut an bessere und schlechtere Dinge anzupassen.
Nur in den ersten Wochen wurde ich von blasierten Urlaubern aufgeschreckt, die herumschnackten und faul an ihrer Limonade nippten. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich einfach mein Handy herausnehmen und ein Foto machen konnte, ohne von der Polizei angezeigt zu werden.
Dann dachte ich, dass jemand den hohen Preis für den Schutz der zerbrechlichen Demokratie in der Welt zahlen muss. Jemand hält die Horden (Anm. d. Red: Beleidigende Bezeichnung der Ukrainer für russische Invasoren) im östlichen Teil ihres Subkontinents zurück, jemand kämpft hart an den 2500 Kilometer langen Frontlinien, damit ich diese Worte schreiben kann, während ich an meinem Schreibtisch in Lwiw Kaffee schlürfe.
An der Grenze zur Ukraine
Wir haben die Warteschlangen an den acht polnisch-ukrainischen Grenzübergängen online verfolgt, um denjenigen mit der kürzesten Warteschlange zu finden. Es gab etwa 50 Autos, die das Land verlassen wollten, und niemanden, der einreisen wollte.
Der Grenzbeamte forderte uns auf, den Kofferraum zu öffnen, und schaute verwundert auf das vollgepackte Auto und fragte: „Was haben Sie denn da?“ „Bücher, ein Fahrrad, Kleidung, Käse, einen Rollstuhl, Gehhilfen, einen Rasenmäher…“
Ich hatte mir eine ganze Geschichte ausgedacht, um die einzelnen Gegenstände im Auto zu erklären. Ich dachte, das könnte Verdacht erregen. Ein Engländer, der seine Sachen in die Ukraine verlagert: ein Fahrrad, eine große Kiste mit Geschichtsbüchern, der alte Rasenmäher seiner Großmutter. Außerdem jede Menge Cheddar-Käse. Und ein alter Rollstuhl und zwei Gehhilfen für meinen Freund in der Kleinstadt Butscha. Aber zu meiner Enttäuschung war keine Erklärung nötig. Der Wachmann winkte verzweifelt mit der Hand: „Los.“
Zurück Zuhause. Die Sirnen fühlen sich nicht bedrohlich an, noch nicht. Die örtlichen Bauern verkaufen üppiges Grün, Milchprodukte, saftiges Obst und Gemüse, im Nachbarhaus werden gerade Briefkästen ausgetauscht. Die Menschen scheinen etwas entspannter zu sein.
Und doch vorbereitet. Wir sind auch vorbereitet. Wie Tausende von Zivilisten habe ich einen Kurs in taktischer Notfallmedizin absolviert und gelernt, wie man ein Magazin lädt und mit einer AK-74 schießt. Hoffentlich muss ich diese Fähigkeiten nicht anwenden.
Auch wenn unser Krieg in den westlichen Nachrichten untergegangen ist, sind wir immer noch hier und kämpfen alle auf unsere Weise. Bitte unterstützen Sie uns weiterhin auf jede erdenkliche Weise, und wir werden den süßen Geschmack des Sieges und des Friedens gemeinsam genießen.
Übersetzung: Carolin Raab und Martin Böhmer, in Zusammenarbeit mit Stefan Corssen