„Ich war nicht mehr ich selbst“Grünen-Politiker Klocke spricht über seine Depression
Köln – Arndt Klocke wartet vor dem Haus in der Adamstraße 12 in Mülheim. „LVR-Tagesklinik für Allgemeinpsychiatrie“ steht auf dem Schild neben dem Eingang.
„Ich bin zum ersten Mal seit damals wieder hier“, sagt der Grünen-Politiker nachdenklich. „Damals“, das ist die Zeit, als Klocke mit einer schweren Depression kämpfte. Bislang wissen nur wenige Menschen von seiner Erkrankung. Jetzt hat er sich entschlossen, seine Geschichte öffentlich zu machen.
Klockes Geschichte reicht weit zurück
„Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen, sich nicht zu verstecken. Es sind viel mehr Menschen von Depressionen betroffen als man denkt. Aber Hilfsangebote sind nur rar gesät. Viele wissen sich nicht zu helfen, wenn sie in eine solche Situation kommen. Das muss sich ändern“, fordert der Landtagsabgeordnete aus Nippes.
Die LVR-Tagesklinik wirkt von außen wie ein Bürogebäude. Klocke geht in den zweiten Stock – dort sind die Räume, in denen er acht Wochen lang therapiert wurde. Er blickt kurz in den Flur, einige Zimmer stehen offen, in denen Patienten gerade Pause machen.
Klocke erkennt niemanden wieder. „Das spricht für den Behandlungserfolg“, sagt der Politiker und schmunzelt. Später erzählt er in einem nahen Café seine Geschichte. Sie reicht weit zurück und ist sehr persönlich. Klocke setzt mit dem Jahr 2014 ein.
Urlaub bringt keine Erholung
Nach der parlamentarischen Sommerpause startet er nicht mit dem üblichen Elan in den Politikbetrieb. Der Sommerurlaub auf Norderney war vielleicht zu kurz und hatte nicht die erhoffte Erholung gebracht. Die Leistungsbatterie bleibt entladen.
Der Politiker fühlt sich schlapp und antriebslos. Dann verstärkt ein ärgerlicher Vorfall die düstere Stimmung. Nach einer Taxifahrt in Bonn ist Klockes Handy verschwunden. Alle Telefonnummern, Kontakte, Mails sind weg.
Dem grünen Politiker fehlt ein wichtiger Arbeitsspeicher. Vor allem der Verlust der Fotos, die ihn an seine Reise nach New York erinnern, trifft ihn schmerzlich. „Das fühlte sich so an, als ob mein Speicher gelöscht worden wäre.“
Zur schlechten Laune kommen jetzt vermehrt körperliche Symptome. „Ich konnte kaum noch schlafen. Und obwohl Herbst war, bekam ich allergisches Asthma.“
Die Beschwerden hatte er auch im Zivildienst
Diese Beschwerden erlebt Klocke nicht zum ersten Mal. In seiner Zeit als Zivildienstleistender im Johanniter-Ordenshaus in Bad Oeynhausen wirft ihn eine schwere Verstimmung aus der Bahn.
Nach der ausgefüllten Schulzeit, in der Klocke Schülersprecher war und mit der Theater AG auf der Bühne stand, stellt ein mutiger Entschluss sein Leben auf den Kopf. „Ich hatte mich zu meinem schwulen Coming-Out entschlossen. Der Schritt ist mir nicht leicht gefallen.
Es war weit vor Klaus Wowereit und Volker Beck, zur Zeit des Aids-Sterben. Ich weiß noch, dass ich einen Ratgeber in einer ostwestfälischen Buchhandlung geklaut habe, weil es mir zu peinlich war, das Buch an der Kasse zu bezahlen.“
Klocke zog sich zunächst zurück
Die Reaktionen, die Klocke befürchtet hatte, treffen teilweise ein. Die Nachricht wird in der Kleinstadt, in der der Vater als Stadtkämmerer tätig ist, schnell zum Gesprächsstoff. Der Freundeskreis reagiert offen und verständnisvoll.
Seine Eltern wissen zunächst nicht recht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Klocke zieht sich zurück. In der ostwestfälischen Provinz gibt es keine Anlaufstellen, das Internet ist noch nicht erfunden. Auf Vermittlung seiner früheren Klassenlehrerin beginnt er eine Gesprächstherapie.
Durch die Unterstützung gelingt es ihm, sich aus der Lethargie zu befreien. Nun kann er endlich damit beginnen, sein Studium zu planen. Das war 1991. Die Erinnerung verblasst mit der Zeit.
Heute gehört Klocke zur Führungsriege der Grünen in NRW. Er wirkt wie ein Fels in der Brandung. Als ehemaliger Parteivorsitzender hat er gelernt, frei zu reden und sein Publikum mitzunehmen. Sein Lebenspartner, Landeschef Sven Lehmann, wirkt als fester Rückhalt.
Klocke ist jetzt für Verkehrspolitik zuständig. Er trägt eine hohe Verantwortung und geht motiviert an die Arbeit. Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich alte Ängste auf.
„Ich fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Mich konnte nichts mehr erfreuen. Die Arbeit kam mir plötzlich wie ein unüberwindbarer Berg vor. Ich hatte Panik, das Pensum nicht mehr absolvieren zu können. Im Landtag fällt es schnell auf, wenn man nicht mitarbeitet.
Kliniken weisen Klocke ab
Aber ich war ständig müde und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Leere, Verzweiflung und Angst nahmen Besitz von mir. Ich war nicht mehr ich selbst. Irgendwann war klar, dass ich das nicht allein durchstehen würde.“
Was nun geschieht, haben viele Betroffene auch so erlebt. Klocke bemüht sich um Hilfe, doch er wird abgewiesen. „Ambulante Einrichtungen haben in der Regel keine Plätze frei. Da muss man sich Monate vorher anmelden, um unterzukommen.
Das ist absurd. Wenn sich jemand das Bein bricht warten die Ärzte ja auch nicht Wochen bis zur Operation. Wir haben eine hochdifferenzierte medizinische Versorgung zur Behandlung aller möglichen Erkrankungen.
Privatbehandlungen sind extrem teuer
Nur für Menschen mit Depressionen gibt es kaum Anlaufstellen und wenn es sie gibt, reichen oft die Plätze nicht. Es sei denn, man begibt sich in eine Privatklinik am Ammersee und legt 25.000 Euro für eine dreiwöchige Behandlung auf den Tisch.“
Schließlich begibt sich Klocke in die städtische Klinik in Merheim. Dort gibt es eine Psychiatrie-Abteilung für Patienten mit akuten Problemen. Die sind aber überwiegend ganz anders gelagert. Die Ärzte behandeln schwerst Suchtkranke, Suizidgefährdete und Menschen mit Psychosen.
„Dort wird hervorragende Arbeit geleistet“, sagte Klocke. „Aber ich fand die Krankenhaus-Atmosphäre eher belastend. Das war für mich nicht der richtige Ort, um gesund zu werden.“
Alltag in der Tagesklinik
Klockes Situation belastet auch das private Umfeld, das er eingeweiht hat. Seine Freunde versuchen, einen anderen Behandlungsplatz für ihn zu finden. Schließlich hat er großes Glück. In der LVR-Tagesklinik in Mülheim wurde unverhofft ein Platz frei. Die ambulante Behandlung bietet die Chance, dass man in seiner vertrauten Umgebung bleiben kann. „Das ist eine große Verbesserung der Lebensqualität“, sagt der Politiker.
In der Tagesklinik ist der Alltag klar strukturiert. Es gibt Gruppen- und Einzelgespräche, in denen die Therapeuten versuchen, die Ursachen für die Depression zu klären und den seelischen Zustand zu stabilisieren. Es stellt sich heraus, dass Klocke Rollenmuster aus Kindheit und Jugend beibehalten hat, die ihm nicht gut tun.
Sein Zustand bessert sich schnell
Eine hilfreiche Erkenntnis. In der Klinik werden Entspannungstechniken vermittelt und Sport getrieben. Klockes Zustand verbessert sich schneller als gedacht. Schon nach sechs Wochen kann er die Tagesklinik wieder verlassen. „Die Lust, das Leben in die Hand zu nehmen, war wieder da.“
Die Kollegen in der Fraktion hatten Vertretungen organisiert, jetzt kann Klocke wieder einsteigen. Eine Therapeutin aus Sülz, der er vertraut, unterstützte ihn noch eine Zeit mit ambulanten Terminen.
Klocke macht regelmäßig Yogaübungen und autogenes Training. Er joggt und geht zum Schwimmen. Er nimmt sich die Zeit, zur Ruhe kommen zu können.
Doppelspitze schafft Möglichkeiten zur Arbeitsteilung
Wenn die Arbeit getan ist, schaltet er sein Handy ab. Am Ende hat er das Glück, aus der Krise gestärkt hervorzugehen. Klocke traut sich zu, noch mehr Verantwortung zu schultern. Nach der Landtagswahl im Mai dieses Jahres übernimmt er gemeinsam mit Monika Düker den Fraktionsvorsitz.
Die Entscheidung zu einer Doppelspitze schafft Möglichkeiten zur Arbeitsteilung. Nein, natürlich kann er nicht ausschließen, dass die Krankheit noch einmal zurückkommt, sagt Klocke. „Aber ich habe gelernt, achtsamer mit mir umzugehen und weiß, wie ich mir in schwierigen Situationen helfen kann.“