Kardinal Álvaro Ramazzini, auch als der „rote Bischof“ tituliert, spricht über die angespannte Lage in seinem Land und über Kirchenreformen.
Kardinal zur Lage in Guatemala„Es besteht die Gefahr eines Staatsstreichs“
Herr Kardinal, haben Sie mit dem Sieg des progressiven Präsidentschaftskandidaten Bernardo Arévalo in der Stichwahl vom 20. August gerechnet?
Überhaupt nicht. Zwar war das Volk des bisherigen Präsidenten Alejandro Giammattei und seiner Partei überdrüssig. Deshalb gab es auch große Vorbehalte gegen deren Präsidentschaftskandidatin Sandra Torres. Der Wunsch nach einem Wechsel war mit Händen zu greifen. Aber es gab eigentlich niemanden, auf den sich die Wechselstimmung konzentrierte – bis zum kometenhaften Aufstieg von Arévalo. Vor der Wahl war er ein kaum bekannter Abgeordneter, und auch seine Partei, die Bewegung Semilla, stand lange im Schatten der Regierungspartei und ihrer öffentlichen Dauerpräsenz.
Inzwischen wurde Semilla vorläufig suspendiert, Generalstaatsanwältin Consuelo Porras geht gegen die Partei vor. Kritiker sprechen von politischer Verfolgung, um die Übernahme der Präsidentschaft durch Arévalo noch zu verhindern.
Die Lage ist sehr angespannt. Es besteht die Gefahr eines Staatsstreichs mit einer Intervention des Militärs – ich hoffe aber, dass das nicht passieren wird. Die Generalstaatsanwältin sollte einsehen, dass sie gerade dabei ist, die Demokratie in Guatemala zu zerstören. Eine wesentliche Rolle wird die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft spielen, der UN, der Organisation Amerikanischer Staaten, aber auch der EU und hier speziell Deutschlands. Meine große Bitte an sie alle lautet: Vergessen Sie uns nicht!
Auch als Sie noch kein Kardinalsrot trugen, wurden Sie als der „rote Bischof“ tituliert. Sie haben kürzlich auch für Arévalo demonstriert und sehen den Kampf gegen die Korruption in Guatemala als seine Hauptaufgabe. Wie kann er sie erfüllen?
Ich hatte immer die Hoffnung, dass die falsche Politik der vergangenen Jahre ein Ende findet und der Kampf gegen die Korruption Früchte trägt. Dafür müssen die wichtigen öffentlichen Ämter mit ehrlichen Menschen besetzt werden. Es braucht permanente Kontrolle durch unabhängige Institutionen. Und ganz wichtig ist es, die Verantwortung des Volkes selbst zu stärken. Wir erleben derzeit große Demonstrationen und öffentlichen Protest. Aber es gibt kein etabliertes System einer Kontrolle von unten. Das beginnt mit den lokalen Bürgermeistern. Die können im Grunde machen, was sie wollen.
Welche Rolle hat die katholische Kirche?
Am System der Korruption sind viele beteiligt, die sich selbst als Christen und gute Katholiken bezeichnen. Aber in ihrer Amtsführung ist davon nicht viel zu bemerken. Also ist es unsere wichtigste Aufgabe, die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft daran zu erinnern, dass zu einem christlichen Leben die Beachtung der Zehn Gebote gehört. Wer korrupt ist, verstößt gegen das siebte Gebot: „Du sollst nicht stehlen.“ Korruption ist nichts anderes als Diebstahl. Die zweite Aufgabe sehe ich daran, konsequent jede Form von Korruption anzuzeigen. Und drittens müssen wir als Kirche mit gutem Beispiel vorangehen.
Welchen Beitrag können die kirchlichen Hilfswerke wie zum Beispiel Adveniat leisten?
Das Adveniat-Jahresthema, die Migration, ist brandaktuell. Wir hatten in Lateinamerika nie so starke Wanderungsbewegungen wie zurzeit. Es kommen Menschen aus Haiti, Chile, selbst aus Afrika, um den Weg nach Norden in die USA anzutreten. Entscheidend ist es, nicht nur den Flüchtenden zu helfen, sondern die Menschen auch dazu zu bewegen, in ihren Herkunftsländern zu bleiben. Dazu braucht es Bewusstseinsbildung und konkrete Hilfen für einen sozialen Wandel, für bessere Bildung. Da sind die Hilfswerke gefordert. Die Regierungen in Lateinamerika tun definitiv zu wenig.
Mit Papst Franziskus, der aus Argentinien kommt, verbanden sich am Beginn seines Pontifikats große Hoffnungen auf Kirchenreformen. In unseren Breiten sind viele inzwischen enttäuscht. Bei Ihnen auch?
Nein, wir sind sehr zufrieden mit diesem Papst. Was die Menschen in Deutschland und in Westeuropa beschäftigt, ist stark geprägt von bestimmten Theologinnen und Theologen: Partnerschaften von Homosexuellen, Weihe von Frauen. Wir in Lateinamerika haben andere existenzielle Sorgen. Das beschäftigt die Europäer nicht so. Dabei sollten Fragen wie die gewaltigen Migrationsbewegungen oder der Klimawandel alle gemeinsam interessieren. Die Europäer scheinen aber nicht zu Abstrichen an ihrem Lebensstandard bereit zu sein, die den Klimawandel aufhalten könnten. Der Papst ist hier ein unablässiger Mahner – wie gerade wieder bei seinem Frankreich-Besuch.
Sind die Gleichberechtigung von Frauen oder eine genügend große Zahl von Priestern denn nicht auch „existenzielle“ Themen für die Kirche in Ihrer Region?
Die Weihe verheirateter Männer wird irgendwann kommen.
Erleben wir das noch?
Ich sicher nicht, Sie vielleicht schon.
Wie kommen Sie darauf?
Papst Franziskus ist 86 Jahre alt. Er hat deutlich gemacht, dass er hier nichts mehr entscheiden wird. Dann also frühestens sein Nachfolger. Meine Hypothese: In den nächsten 25 Jahren ist es so weit. Und was die Frauen betrifft: In meiner Diözese sind Frauen bereits stark eingebunden. Ich würde mir noch mehr wünschen, aber nicht zuletzt die indigene Kultur und eine tief verwurzelte Macho-Mentalität bei uns stehen dem entgegen. Da zählen Frauen einfach nicht so viel. Wir halten dagegen und tun alles, damit Frauen den Platz bekommen, der ihnen zusteht. Aber es braucht noch viel Bewusstseinswandel.
Welche Bedeutung hat der Skandal des sexuellen Missbrauchs bei Ihnen?
Es kommt darauf an, über welche Länder wir sprechen. Bei uns in Guatemala spielt das Missbrauchsthema keine große Rolle – anders als die Priester, die den Zölibat nicht halten, oder alkoholkrank werden. An diesen Problemen arbeiten wir in Guatemala gerade sehr intensiv.
Was heißt, das Thema spielt keine große Rolle?
Wir hatten in Guatemala in den vergangenen Jahren nur drei Fälle von Missbrauch. In zweien davon sitzen die Täter im Gefängnis. Ich war deshalb wirklich überrascht über die Dimension in den USA, in Kanada oder auch in Chile.
In Deutschland haben die Bischöfe lange Zeit das Gleiche gesagt: ein Problem der Amerikaner, bei uns nur Einzelfälle. Bis die Opfer ihr Schweigen brachen.
In den Fällen, die mir bekannt sind, haben die Opfer die Täter angezeigt. Eine Erklärung, warum es nicht mehr sind, habe ich nicht.
Zur Person
Álvaro Ramazzini, geboren 1947, ist Bischof von Huehuetenango in Guatemala. 2019 ernannte Papst Franziskus ihn zum Kardinal. Ramazzini ist zurzeit als Gast des Hilfswerks Adveniat in Deutschland.
Adveniat-Weihnachtsaktion
Die traditionelle Weihnachtsaktion des Hilfswerks Adveniat steht in diesem Jahr unter dem Motto „Flucht trennt. Hilfe verbindet“. Nach Angaben des Hilfswerks kommt ein Fünftel aller Geflüchteten aus Lateinamerika. Millionen Menschen verlassen aufgrund von Verfolgung, Gewalt und Hunger ihre Heimat. Adveniat versorgt mit seinen Projektpartnerinnen und -partnern vor Ort Flüchtende mit Lebensmitteln und Medikamenten, bietet Schutz in sicheren Unterkünften und ermöglicht mit Ausbildungsprojekten die Chance auf einen Neuanfang. Weitere Informationen finden Sie hier.