NachrufGeißler war der erste wirklich moderne Politiker im Nachkriegsdeutschland
- Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ist im Alter von 87 Jahren gestorben.
- Geißler galt als „Urgestein“ seiner Partei, sein politisches Wirken konzentriert sich auf die 70er und 80er Jahre.
Berlin – Heiner Geißler hat an vielem gezweifelt in seinem langen Leben: An der Kirche, an seiner Partei, am Kapitalismus. Von manchem hat er sich sogar losgesagt. Von seinem Freund und Förderer Helmut Kohl zum Beispiel. Nur Selbstzweifel waren seine Sache nie. Bis ins hohe Alter blieb der langjährige CDU-Politiker zutiefst von sich überzeugt. Und von den Positionen, die er gerade vertrat.
Diese Selbstgewissheit war eine Provokation für seine Gegner. Für ihn war sie das Erfolgsrezept, ganz im Sinne des Credos, das Oskar Lafontaine später als politische Grundregel ausrief: Weil er so begeistert von sich war, gelang es ihm so überzeugend, andere für sich und seine Positionen zu begeistern.
Erinnerungen an Wehner und Strauß
Geißler war der letzte in der Reihe von Politikern, die gern mit dem Begriff „Urgestein“ geehrt wurden – weil ihre Laufbahn so weit hineinreicht in frühe(re) Tage der Republik, obwohl seine wichtigste Zeit nur die wilden 70er und 80er Jahre waren, als das Zentrum der deutschen Politik noch in Bonn lag. Seiner erinnern wir uns auch deshalb mit einer gewissen Sehnsucht, weil er in seiner Scharfkantigkeit den großen alten Recken zu ähneln schien wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß, die mit ihrer rhetorischen Gewalt Parlament und Öffentlichkeit aufmischten.
In Wirklichkeit war er nicht nur erheblich jünger als sie, sondern auch moderner – der erste wirklich moderne Politiker im Nachkriegsdeutschland. Denn er folgte nicht bloß mit hoher Intelligenz und Reaktionsschnelligkeit seinem Zorn oder dem politischen Instinkt, wenn er eine Debatte mit einem neuen polemischen Dreh emotional hochfuhr. Heiner Geißler pflegte solche Situationen vorzubereiten. Systematisch. Als Generalsekretär baute er die Bundesgeschäftsstelle der CDU seit Ende der 70er Jahre zur Kommandozentrale für Kampagnen innerhalb und außerhalb der Wahlkämpfe aus.
Grüne zur Weißglut gebracht
Ein klassisches Beispiel für die kühle Präzision seiner Polemik, mit der er seine Gegner zur sprichwörtlichen Weißglut brachte, ist der berühmte Vorwurf, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht. So jedenfalls gelangte er über die Schlagzeilen in die kollektive Erinnerung. Im Original war Geißlers Antwort auf die Grünen jedoch differenzierter, die wegen der Zerstörungskraft der Atomraketen die Nachrüstung mit Auschwitz verglichen hatten.
In der Bundestagsdebatte über die atomare Nachrüstung der Nato, gegen die damals Hunderttausende auf die Straße gingen, sagte er am 15. Juni 1983 an den späteren grünen Außenminister Joschka Fischer gewandt, der „Pazifismus der dreißiger Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem heutigen unterscheidet“, habe „Auschwitz erst möglich gemacht.“ Dies habe man „in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen.“ Der Redner relativierte also den Vergleich, um kurz darauf, seine Bedeutung zu unterstreichen. Eine trickreiche Mischung von Seriosität und Hintersinn.
SPD als „Fünfte Kolonne der anderen Seite“
Mit der SPD trieb er nicht so viel Aufwand. Sie schalt er schlicht die „Fünfte Kolonne der anderen Seite“. Ein anderes Wort für: Agenten. Geißler knüpfte damit an eine Argumentationslinie aus den 5Oer Jahren an, als die CDU plakatierte: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“. Wegen dieses Stils seiner Attacken ließ der ansonsten eher besonnene Willy Brandt sich zu der Bemerkung hinreißen, Geißler sei „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land“.
Doch die schönsten (oder schlimmsten) Kampagnen nützten nichts. Von den fast 49 Prozent bei der Bundestagswahl 1983 konnte die Union bald nur noch träumen. Die Schuldigen für den Popularitätssverlust hatte der Generalsekretär schnell ausgemacht: Die Bundesregierung, die im Herbst 1982 die sozialliberale Koalition abgelöst hatte. Immer wieder ließ er seine Kritik am schwarzen Teil des konservativ-liberalen Kabinetts durchsickern. Den Bundeskanzler sparte er nicht aus. Im Gegenteil. Mangelnden Führungswillen bescheinigte er ihm und die Vernachlässigung seines Amtes als CDU-Chef. „Ich bin der geschäftsführende Vorsitzende“, sagte Geißler. Da begann sein Selbstbewusstsein in Selbstüberschätzung umzuschlagen.
Denn seit dem Eintritt in dessen Mainzer Landesregierung 1967 hatte der ebenso ehrgeizige wie eloquente Jurist die entscheidenden Jahre seines Aufstiegs im Schlepptau von Helmut Kohl verbracht. Der aber mochte es gar nicht, wenn – wie er unter Berufung auf seine Mutter formulierte – die Hand, die segnet, auch gebissen wird. Obendrein verfügte der starke Mann der CDU nicht nur über ein verteufelt gutes Gedächtnis, sondern auch über ein dichtes Netz von Zuträgern auf allen Ebenen der Partei.
Geißler hätte also wissen können, nein, müssen, dass Helmut Kohl ein Versuch, ihn zu entmachten, nicht lange verborgen bleiben würde. Als die Vorbereitungen erkennbar wurden, schreckte Lothar Späth im letzten Moment davor zurück, wie verabredet auf dem CDU-Parteitag 1989 gegen den Kanzler anzutreten. Als Baden-Württembergs Ministerpräsident war er unanfechtbar. Zunächst. Aber der Generalsekretär war seinen Posten los. Das hatte Kohl schon lange vor dem Parteitag beschlossen.
Erst vor knapp zwei Jahren hat Heiner Geißler eine neue Version über das Scheitern des Putschversuchs gegen Kohl öffentlich gemacht, die in den Medien erstaunlicherweise kaum Widerhall fand. „Er ist zur Deutschen Bank, ich will nicht sagen: zitiert worden, aber jedenfalls war er dort“, behauptete er im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“. Die Banker hätten „ihm gesagt: Kohl soll bleiben“.
Späth war zum Zeitpunkt des Interviews bereits an Demenz erkrankt, er konnte sich nicht mehr äußern. Sein früherer Regierungssprecher Manfred Zach bestätigte die Darstellung indirekt: „Späth erzählte mir, die Wirtschaft sage, man stürzt keinen CDU-Kanzler, alle sähen das so.“
Geißler wird zum radikalen Kritiker der Marktwirtschaft
Wenn das stimmt, könnte es erklären helfen, warum Geißler im Lauf der folgenden Jahre von einem gemäßigten zu einem radikalen Kritiker der Marktwirtschaft wurde, die er als immer weniger sozial empfand. Denn er wurde nicht nur von Helmut Kohl kaltgestellt, sondern fühlte sich auch von dessen Verbündeten in der Wirtschaft verfolgt. Alfred Herrhausen, der später von Terroristen ermordete Chef der Deutschen Bank, war mit dem Kanzler eng befreundet.
Heiner Geißler hatte stets zum linken Flügel der CDU gehört. Gemeinsam mit dem langjährigen Arbeitsminister Norbert Blüm wurde er als „Herz-Jesu-Marxist“ verspottet. In den 70er Jahren hatte er den Begriff der „neuen sozialen Frage“ geprägt. Er wies damit auf Nöte von Menschen hin, Jugendliche, Alte, Kranke, die sich bei der Vertretung ihrer Interessen jenseits des klassichen Konflikts von Kapital und Arbeit nicht auf den Schutz großer Organisationen wie der Gewerkschaften verlassen konnten.
Geißler war passionierter Bergsteiger
Damals stieß er auch eine Modernisierung des Frauenbildes im Grundsatzprogramm der CDU an – zunächst noch mit Rückendeckung von Helmut Kohl. Damit Frauen Familie und Beruf besser vereinigen können, begann Geißler in seiner kurzen Zeit als Familienminister den langen Weg zur Einführung von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld. Seine Nachfolgerin wurde 1985 Rita Süßmuth.
Der Mann aber, der sich einmal stark genug gefühlt hatte, den stärksten Mann der CDU aus dem Amt zu drängen, war auf den stellvertretenden Fraktionsvorsitz im Bundestag und die Rolle eines einfachen Mitglieds im Präsidium zurückgeworfen. Spätere Versuche eines Comebacks in Ostdeutschland wusste der nachtragende Kanzler zu hintertreiben. Denn seit der Wiedervereinigung war Kohl fast ein Jahrzehnt lang mächtiger denn je.
Nach dem Machtverlust der CDU im Bund und der Aufdeckung von Helmut Kohls System schwarzer Kassen, machte sich Geißler mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit auf den Marsch aus dem engen Reich der Realpolitik ins zwanglose Leben eines freien Radikalen. Sogar in das globalisierungsskritische Netzwerk Attac ist er eingetreten. Ab und an war er noch in der typischen Rolle eines „elder statesman“ gefragt – als Schlichter in Tarifkonflikten oder im Streit um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“.
Ansonsten nahm er Einladungen zu Talkshows an, schrieb in hoher Taktzahl ein ums andere Buch und formulierte Sätze wie diesen: „Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist nicht konsensfähig und zutiefst undemokratisch, es muss ersetzt werden durch eine neue Wirtschaftsordnung.“ Was wäre dem CDU-Generalsekretär Heiner Geißler dazu alles eingefallen ... Damals hatte er die politische Linke mit allen Mitteln bekämpft. Und sie ihn. Jetzt lag sie Heiner Geißler zu Füßen.
Geißler unterstützt Merkels Öffnung der Grenzen
An der CDU schätzte er zuletzt vor allem die Frau, die ihre Partei einst von seinem großen Gegner Helmut Kohl befreit hat. Wegen der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge 2015 verdiene sie den Friedensnobelpreis, forderte er mehrfach.
Im Übrigen knüpfte Heiner Geißler in seinem Engagement dort an, wo er vor dem Eintritt in die Welt der Politik Ende der 50er Jahre begonnen hatte: dem christlichen Glauben. Weil es im ländlichen Württemberg keine Schule gab, auf der er hätte Abitur machen können, hatte er mit 16 Jahren das Kolleg der Jesuiten in St. Blasien besucht. Anschließend trat er als Novize in den Orden ein. Vier Jahr später war er wieder draußen, ehe er das Gelübde hätte ablegen müssen, das ihn lebenslang auf Armut, Keuschheit und Gehorsam verpflichtete.
Augenzwinkernd bekannte er: „Mit 23 Jahren habe ich gemerkt, ich kann zwei – also mindestens eins – dieser Gelübde nicht halten. Die Armut war es nicht.“
Statt mit Kohl und Kapital legte Geißler sich in den letzten Jahren jugendfrischen Zorns mit den Kirchen an. Seit einem schweren Unfall musste er seine geliebten Extremsportarten Bergsteigen und Gleitschirmsegeln aufgeben. So schimpft er gebeugten Ganges, aber ungebrochen: „Mich packt der heilige Zorn, wenn ich an die offizielle evangelische und katholische Theologie denke.“ Am Ende hat der zweifelnde Katholik sogar dem Urvater der Protestanten posthume Ratschläge gegeben. Sein letztes Buch hieß: „Was müsste Luther heute sagen?“
Am 11. September in Heiner Geißler mit 87 Jahren im pfälzischen Gleisweiler gestorben. Er hinterlässt Frau und drei erwachsene Kinder.