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Interview mit Migrationsforscher„Ankerzentren werden den Stress verstärken“

Lesezeit 5 Minuten
Ankerzentren Symbol

Das Transitzentrum in Manching, Bayern, könnte eines von mehreren sogenannten Ankerzentren für Flüchtlinge werden.

Berlin – Werner Schiffauer ist seit 2012 Vorsitzender des Rats für Migration, einem bundesweiten Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die sich interdisziplinär mit dem Thema Migration und Integration beschäftigen. Im Interview spricht er über die geplanten Ankerzentren der Bundesregierung für Flüchtlinge.

Herr Schiffauer, der neue Innenminister Horst Seehofer wird demnächst einen „Masterplan für Migration“ vorlegen, auch die Innenminister der Länder beschäftigen sich mit dem Thema. Zentraler Bestandteil sind sogenannte Ankerzentren, in denen Asylbewerber und Flüchtlinge vom Tag der Ankunft bis zum Bescheid – im Zweifelsfalle der Abschiebung – untergebracht werden. Was bedeutet das für die Betroffenen?

Die erste Phase ist für Geflüchtete, die hier ankommen, immer eine große Belastung. Das ist eine Phase des Wartens mit sehr ungewissem Ausgang. Auf der einen Seite hat man endlos viel Zeit, auf der anderen Seite läuft einem die Zeit weg, weil Lebenszeit verschleudert wird. Das ist hochgradig Stress erzeugend. Wenn der Stress noch durch schlechte Lebensbedingungen gesteigert wird, kann das zu sehr unguten Folgen führen. Das ist auch das Ergebnis verschiedener Studien, die wir am Lehrstuhl für vergleichende Kulturanthropologie durchgeführt haben.

Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration (2)

Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration

Es ist davon die Rede, dass bis zu 1500 Menschen in diesen Ankerzentren leben sollen. Führt das nicht zwangsläufig dazu, dass der Stress weiter wächst?

In Massenunterkünften gibt es immer Probleme, das ist strukturell angelegt. Deshalb gab es ja auch 2015 Bestrebungen, möglichst dezentral unterzubringen, um Not zu vermeiden. Aber das ist jetzt leider völlig vom Tisch. Die Ankerzentren werden diesen Stress verstärken.

Ein Argument Seehofers ist, dass mit den Ankerzentren die Verfahren beschleunigt werden, weil alles unter einem Dach stattfindet.

Gegen eine Beschleunigung der Verfahren ist nichts zu sagen. Das Problem ist Beschleunigung plus Zentralisierung, also die Unterbringung in Massenunterkünften, die gar nicht notwendig ist. Es geht hier um Abschreckung.

Im Zentrum steht also ein politisches Signal?

Ja, die Botschaft ist: Wir wollen keine zusätzlichen Geflüchteten in Deutschland. Deshalb greift man sogar zu unnötigen und kostenintensiven Maßnahmen wie Sachleistungen statt Bargeld, was viel umständlicher ist und die Lebensumstände der Betroffenen massiv beeinträchtigt, weil sie nicht selbst kochen können. Das engt den ohnehin sehr engen privaten Spielraum noch weiter ein. Es wird bewusst verelendet, auch wenn es mehr kostet.

Welche Folgen wird diese Verelendung haben?

In Bayern etwa ist es jetzt schon so, dass laut Angaben des Bayrischen Flüchtlingsrats etwa ein Drittel zurückgeht in die Herkunftsländer und ein weiteres Drittel in die Illegalität abtaucht. Das letzte Drittel schlägt sich in den Unterkünften durch. In Massenunterkünften ist zu beobachten, dass Depressionen, Krankheiten und Aggressionen zunehmen.

Auch, weil es keine Privatsphäre gibt?

Das führt zu vielen sozialen Stresssituationen und entlädt sich nicht nur in verschiedenen ethnischen Gruppen untereinander, sondern auch gegenüber den Wachdiensten. Das kann leicht eskalieren und zu neuer Gewalt führen, das haben wir in Bamberg gesehen. Dazu kommt als zweites großes Problem diffuse Aggression untereinander. Das dritte Problem ist die Politisierung und Solidarisierung wie etwa jüngst in Ellwangen. All das führt dazu, dass solche Lager zu Fremdkörpern in der Stadt werden. Selbst in einer Umgebung, die vorher bei der dezentralen Unterbringung freundlich gegenüber Flüchtlingen eingestellt war, kann dann die Stimmung kippen.

All diese Auswirkungen sind bekannt – sogar die Polizei hält nichts von den Ankerzentren. Warum sollen sie trotzdem durchgesetzt werden?

Das ist viel Populismus dabei: Steckt sie ins Lager, dann ist das Problem angeblich gelöst. Es geht um klassisches Sicherheitsdenken. Man isoliert den Problembereich und erweckt damit den Anschein, alles unter Kontrolle zu haben. Das verspricht auf abstrakte Weise Sicherheit. Dass damit genau das Gegenteil produziert wird, passt nicht ins Weltbild. Durch dieses Ordnungsdenken wird massive gesellschaftliche Unordnung geschaffen.

Die SPD hat diese Ankerzentren unterstützt, als es um den Koalitionsvertrag ging. Jetzt findet sie sie plötzlich keine gute Idee mehr. Wie bewerten Sie das?

Das war vorhersehbar. Ich sehe im Prinzip aber keinen großen Unterschied zwischen CDU und SPD in der Migrationspolitik, wohl aber zur CSU. Es gibt in SPD und CDU vernünftige Politiker, aber auch solche, die sich von der AfD vor sich hertreiben lassen. Seehofer dagegen versucht, vor der Bayern-Wahl die AfD zu überholen.

Was empfehlen Sie als Rat für Migration?

Unser Rat ist ganz klar dagegen, solche Ankerzentren zu errichten. Massenunterkünfte können nur eine Notmaßnahme sein, die so menschlich ausgestaltet werden müssen wie möglich. Grundsätzlich muss man immer versuchen, die Menschen so dezentral wie möglich unterzubringen. Wir haben 2015 ja gesehen, dass auch anderes möglich ist.

Das halten viele heute für einen Fehler.

Das ist sehr bedauerlich. Damals hat die Gesellschaft als Ganzes nach neuen Wegen gesucht, und es gab die überraschendsten Entwicklungen, auch auf dem flachen Land. Die derzeitige politische Stimmung zerstört bewusst dieses gesellschaftliche Experimentierfeld. Damit wurde auch ein Vakuum geschaffen, in das die AfD hineinmarschiert ist. Dabei hätte man der AfD doch etwas Positives und Angstminderndes entgegensetzen können. Das ist das große Politikversagen der vergangenen eineinhalb Jahre. Wir brauchen eine Politik, die wegkommt von Panik und Abschreckung und nicht nur auf Zahlenrhetorik basiert, sondern auf langfristigen Konzepten.

Deutschland ist längst ein Einwanderungsland, trotzdem tut sich die große Koalition schwer damit, das anzuerkennen. Wäre – gerade wenn man die Fehler berücksichtigt, die 2015 und 2016 gemacht wurden – nicht statt eines Masterplans für Migration vielmehr ein Ministerium für Integration und Einwanderung überfällig?

Das wäre sehr sinnvoll, denn es wäre ein Signal, dass politischer Gestaltungswille vorhanden ist. Derzeit ist ein Großteil der Migrationspolitik im Innenministerium angesiedelt, und damit dominiert automatisch der Sicherheitsaspekt. Ein Integrationsministerium wird sich immer auch als Anwalt der Migranten sehen, und das wäre eine echte Chance für eine andere Politik, die den Fokus auch darauf legt, was wir als Gesellschaft gewinnen.