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Interview mit Waffenexperte„Putin selbst hat nur einen Teil des Atomwaffen-Codes“

Lesezeit 4 Minuten
Wladimir Putin Geste

Der russische Präsident Wladimir Putin

  1. Der russische Präsident Wladimir Putin hat im Zuge des Angriffkriegs auf die Ukraine die Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft versetzt und auch mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht.
  2. Was bedeutet das? Kann Putin einfach auf einen „roten Knopf“ drücken und einen Atomkrieg auslösen?
  3. Wir haben bei Lars Winkelsdorf, Waffensachverständiger und selbstständiger Fachdozent für Waffensachkunde nachgefragt..

Herr Winkelsdorf, Wladimir Putin hat Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Wie groß ist die reale Gefahr aus ihrer Sicht, dass im Ukraine-Konflikt tatsächlich Atombomben zum Einsatz kommen?Ich halte es für relativ unwahrscheinlich. Die Alarmbereitschaft bezieht sich auf eine personelle und technische Alarmbereitschaft. Das heißt, wir reden über eine Bereitschaftsphase bei den russischen Nuklearstreitkräften. Die müssen alle vor Ort in der Kaserne sein, die Geräte müssen einsatzbereit sein. Es ist aber nicht so, dass die Raketen jetzt aufgestellt sind und die Streitkräfte unmittelbar darauf warten, dass ein Einsatzbefehl kommt.

Jetzt ist die Lage vor Ort aber in der vergangenen Woche eskaliert…

Das ist sie. Aber das darf man nicht falsch verstehen: Diese Alarmbereitschaft ist tatsächlich eher eine personelle und materielle Einsatzbereitschaft. Es ist nicht so, dass die Raketen jeden Moment gestartet werden sollen. Man muss es eher verstehen als Ausgangssperre. Die Leute dürfen jetzt nicht einfach aus der Kaserne raus oder in den Jahresurlaub fahren.

Immer wieder ist die Rede vom berühmten „Roten Knopf“: Könnte denn eine Kurzschlussreaktion des russischen Präsidenten zur Atom-Katastrophe führen?

Nein. Da sind mehrere Personen zwischengeschaltet. Putin selbst hat nur einen Teil des Codes, um einen solchen Atomkrieg auslösen zu können. Die andere Hälfte ist beim russischen Verteidigungsminister und ein dritter Code ist erforderlich vom Generalstab.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden aber auf Putin-Kurs sind, ist aber ja nicht gering.

Das ist richtig, aber letztlich sind das alles erwachsene Menschen. Selbst wenn sie auf Putin-Kurs sind, haben sie keinen Grund, Selbstmord zu begehen. Praktisch wäre das Suizid.

Weil unmittelbar eine Reaktion folgen würde…

Unvermeidbar. Es würde ein großer globaler Schlagabtausch ausgelöst werden und der würde unter Garantie auch die Verantwortlichen in Russland töten.

Käme es denn unmittelbar zu einem Angriff, wenn die Verantwortlichen die Codes eingegeben haben?

Es ist im Grunde standardisiert nach dem Prinzip „Stille Post“, wo verschiedene Zahlenfolgen weitergegeben werden. Erst durch den Einsatzbefehl des Generalstabes würden überhaupt Befehle gegeben werden können an Atomstreitkräfte. Und die würden dann die jeweiligen Waffensysteme scharfschalten müssen. Jedes Waffensystem ist extrem empfindlich und extrem kompliziert im Aufbau des Zünders. Sie geben einen zehn- oder zwölfstelligen Code in die jeweilige Kernwaffe ein und erst dann würden die überhaupt zündfähig.

Wie läuft so etwas zeitlich ab?

Der russische Präsident übermittelt seinen Code an den Verteidigungsminister, der die zweite Hälfte des Codes hat. Und nur mit diesem vollständigen Code kann der Einsatzbefehl an den Generalstab erteilt werden, der dann seinerseits einen Code hat. Diese drei unterschiedlichen Codes müssen dann übermittelt werden als Einsatzbefehle an die jeweiligen Raketenstreitkräfte. Und im Generalstab sind mehrere Personen. Insgesamt sind mindestens zehn Personen beteiligt.

Und die müssten alle ihr „Go“ geben?

Richtig.

Ist denn Atombombe überhaupt gleich Atombombe?

Da gibt es sehr große Unterschiede. Es gibt kleine Kernwaffen für das Gefechtsfeld. Die sind dafür da, um beispielsweise einen Durchbruch von einem Panzerverband abzuriegeln. Das war auch damals im Kalten Krieg gang und gäbe, dass solche Bomben zielgerichtet eingesetzt werden sollten.

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Da reden wir von Größenordnungen deutlich unter Hiroshima – teilweise runter bis zu 20 Tonnen. Zum Vergleich: Hiroshima hatte 15.000 Tonnen. Auf der anderen Seite gibt es sehr große Kernwaffen, also Wasserstoffbomben. Die haben dann eine Wirkung von deutlich über einer Megatonne. Die größte, die jemals gezündet wurde, waren 50 Megatonnen. Die Druckwelle ging drei Mal um den Planeten.

Welche dieser Bomben sind im Besitz der russischen Streitkräfte?

Die haben alle. Raketengestützte Nuklearwaffen im Bereich von Megatonne können ganze Städte ausradieren. Kleine Waffen auf dem Gefechtsfeld können unter anderem Boote versenken. Da ist die gesamte Bandbreite vorhanden.

Die Sorge vor sogenannten thermobarischen Waffen ist in der Ukraine ungleich latenter als vor der Atombombe.

Die werden tatsächlich auch eingesetzt.

Wie wirken die?

Im Grunde muss man sich das so vorstellen, dass eine brennbare Flüssigkeit in der Luft verteilt wird und dann zündet. Die Bomben sind um ein vielfaches größer als normale Bomben.

Gibt es denn da ähnliche Sicherheitsmechanismen wie bei Atombomben?

Nein, das ist bei Atombomben stark ausgeprägt. Thermobarische Waffen sind konventionelle Waffensysteme, die unterstehen vor Ort den einzelnen Militärkommandanten direkt.