Die Kassenchefin Doris Pfeiffer spricht über Beitragsanhebungen und darüber, wie Karl Lauterbach (SPD) die tatsächliche Lage beschönigt.
Interview zur Krankenversicherungen„Steigende Beiträge dürfen keine Selbstverständlichkeit werden“
Frau Pfeiffer, Gesundheitsminister Lauterbach sagt: „Die Beiträge zur Krankenversicherung werden 2024 so gut wie nicht steigen.“ Ist das richtig?
Doris Pfeiffer: Das ist, um es freundlich auszudrücken, eine leider beschönigende Aussage. Minister Lauterbach bezieht sich auf den vom Gesundheitsministerium festgelegten Zusatzbeitrag, der um ein Zehntel Prozentpunkt steigt. Doch das ist nur eine Rechengröße. Tatsächlich zahlen die Versicherten und Arbeitgebenden bisher im Schnitt einen Beitragssatz von 16,1 Prozent. Der durchschnittliche tatsächliche Satz steigt zum Jahresanfang nach unseren Berechnungen in Richtung 16,3 Prozent. Das sind rund zwei Zehntel mehr und bedeutet für die Beitragszahlenden bei einem Monatseinkommen von 4000 Euro eine Mehrbelastung von immerhin acht Euro, die sich Versicherte und Arbeitgeber teilen. Das müssen die Menschen und Betriebe auch noch schultern, zusätzlich zu den gestiegenen Preisen für Energie und Lebensmittel. Es ist unangemessen, das als Kleinigkeit abzutun.
Was ist der Grund für die Steigerung?
Die Ausgaben sind schon im dritten Quartal ungewöhnlich stark nach oben gegangen, das passiert normalerweise erst zum Ende des Jahres. Insbesondere die Kosten für die Krankenhäuser steigen besonders stark. Aber auch die im kommenden Jahr um rund zwei Milliarden Euro ansteigenden Arzthonorare werden zu Buche schlagen. Ohne Gegensteuern drohen auch 2025 höhere Beitragssätze. Die sich schon seit mehreren Jahren drehende Erhöhungsspirale muss endlich durchbrochen werden. Steigende Beiträge dürfen keine Selbstverständlichkeit werden. Zur Lösung sollte Minister Lauterbach eigentlich schon bis zum Sommer Vorschläge für eine Finanzreform vorlegen. Aber bisher kennt die niemand.
Die Forderung der Kassen nach mehr Steuergeldern dürfte angesichts der Haushaltslage allerdings weiter ins Leere laufen. Wo muss gespart werden?
Zunächst einmal: Es ist und bleibt richtig, dass es nicht die Aufgabe der Beitragszahlenden ist, staatliche Aufgaben zu finanzieren. Es kann nicht sein, dass der Bund für die Bürgergeldempfänger zu geringe Beiträge an die gesetzlichen Krankenkassen abführt und die Versicherten und Arbeitgeber das mit vielen Milliarden Euro im Jahr ausgleichen müssen. Deshalb werden wir diese Forderung weiterhin ganz massiv erheben, unabhängig davon, wie hoch die Erfolgsaussichten gegenwärtig sind.
Doris Pfeiffer ist Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. Die 64-jährige Volkswirtin führt den Verband seit 2007. Er ist die oberste Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Der Spitzenverband verhandelt für alle Kassen beispielsweise Verträge mit Ärzten und Kliniken.
Aber nochmal: Wo kann gespart werden?
Unabhängig von der Finanzlage werden schon aufgrund des demografischen Wandels massive Reformen im Gesundheitswesen nötig sein. Ein Beispiel: Gegenwärtig sind im Verhältnis zur Einwohnerzahl in Deutschland viele Pflegekräfte beschäftigt - immerhin liegen wir ein Drittel über dem Schnitt der Industrieländer. Gleichzeitig besteht ein Fachkräftemangel. Das Personal ist also vorhanden, wird aber offensichtlich an den falschen Stellen eingesetzt.
Damit sind wir bei der Krankenhausreform, über die weiter gestritten wird. Haben Sie noch Hoffnung, dass am Ende eine gute Reform herauskommt?
Wir haben die große Sorge, dass die Länder am Ende so viele Ausnahmen und Umgehungsmöglichkeiten durchsetzen, dass es bei der Qualität der medizinischen Versorgung und bei der Frage, wo in welchem Umfang Kliniken tatsächlich nötig sind, sogar Rückschritte geben wird. Ein Vorgeschmack ist der aktuelle Streit über die Mindestmengen bei der Versorgung von besonders kleinen Frühchen.
Worum geht es?
Das höchste Entscheidungsgremium der gesetzlichen Krankenversicherung – der Gemeinsame Bundesausschuss – hat entschieden, dass besonders kleine Frühchen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm nur noch in Kliniken behandelt werden dürfen, die besonders erfahren sind. Deshalb wird die sogenannte Mindestmenge zum Jahresanfang von 14 auf 25 Fälle angehoben. Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Mecklenburg-Vorpommern wollen das aushebeln, obwohl die Sterblichkeit und die Wahrscheinlichkeit für Behinderungen in Kliniken mit niedrigen Fallzahlen nachweisbar höher ist.
Die Länder warnen allerdings vor einer Schließung von Geburtsstationen.
Es geht doch gar nicht um die Schließung von Geburtsstationen. Erstens bedeuten die neuen Mindestmengen für termingerechte Geburten und größere Frühchen keinerlei Einschränkungen. Und zweitens entstehen auch für die besonders kleinen Frühchen keine Versorgungslücken, selbst wenn einige der Geburtsstationen künftig solche extremen Frühchen nicht mehr behandeln. Schließlich handelt es sich in derartigen Fällen in der Regel nicht um plötzliche Notfälle, bei denen es auf kurze Wege ankommt. Denn mehr als 95 Prozent der Schwangeren mit einer drohenden Frühgeburt sind zuvor schon unter ärztlicher Betreuung und werden bereits Tage vor der Geburt stationär aufgenommen. Mit ihrem Vorgehen gefährden die Länder das Leben und die Gesundheit von diesen besonders kleinen Frühchen.
Lassen Sie uns zur Klinikreform zurückkehren: Die Krankenhausgesellschaft warnt, dass ohne schnelle Finanzhilfen rund 80 Kliniken in die Insolvenz gehen müssen. Überdenken Sie Ihre ablehnende Haltung gegenüber neuen Hilfen?
Nein. Es kann doch nicht sein, dass die Beitragszahlenden zusätzliches Geld in ein Kliniksystem pumpen, in dem 30 bis 40 Prozent der Betten dauerhaft leer stehen. Warum jetzt noch Kliniken stützen, die am Ende niemand mehr für eine gute Patientenversorgung braucht? Das Prinzip der Förderung mit der Gießkanne muss ein Ende haben. Es ist auch genug Geld im System. Allein die gesetzlichen Krankenkassen zahlen in diesem Jahr rund 93 Milliarden Euro an die Krankenhäuser. Im Kern geht es um die sinnvolle Verteilung der vorhandenen Mittel auf die für die Versorgung der Versicherten notwendigen Krankenhäuser.
Und welche Krankenhäuser der heute rund 1700 Kliniken sind das?
Wenn wir uns die insgesamt bestehenden Krankenhausstandorte anschauen, dann reichen davon 1.247 Krankenhäuser. Damit wären die flächendeckende Notfallversorgung und die Spezialversorgung, also zum Beispiel die Versorgung von Kindern, Geburtsstationen, aber auch die Schlaganfallversorgung, sichergestellt, sowie regional immer genug Betten vorhanden. Aber natürlich wollen wir auch ansonsten nicht einfach alles so lassen, wie es ist, sondern Standorte müssen verändert und weiterentwickelt werden.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Kliniken vom Netz gehen könnten, die auch nach einer Reform noch gebraucht werden?
Das kann leider niemand völlig ausschließen. Aber bereits jetzt gibt es verschiedene Instrumente, um die für die Versorgung notwendigen Krankenhäuser vor einer Schließung zu bewahren. Zudem bedeutet eine Insolvenz im Übrigen nicht, dass eine Klinik automatisch die Versorgung einstellte. Meistens kam es zur Sanierung und zum Weiterbetrieb.
Auch die niedergelassenen Ärzte und die Apotheker klagen über gestiegene Kosten. Sie warnen vor einem Zusammenbruch der Versorgung und wollen mehr Geld. Eine berechtigte Forderung?
Ich sehe keinen Kollaps, schon gar nicht aus finanziellen Gründen. Die Brutto-Reinerträge der niedergelassenen Ärzte sind beispielsweise in den vergangenen Jahren im bundesweiten Durchschnitt auf über 19.000 Euro pro Monat gestiegen. Und die Apotheken profitieren auch dadurch, dass ihre Honorierung neben dem Fixbetrag pro Packung eine Variable enthält, die an den Medikamentenpreisen hängt, die stetig steigen. Außerdem muss deutlich gesagt werden: Was Ärzte oder Apotheker mehr bekommen wollen , müssen die Supermarktkassiererin und der LKW-Fahrer mit ihren Krankenkassenbeiträgen finanzieren. Und auch sie leiden unter den gestiegenen Preisen.
Könnte eine höhere Selbstbeteiligung der Versicherten zur Lösung der Finanzprobleme beitragen?
Aus Sicht der Kassen ist das kein gangbarer Weg. Das hat auch die Praxisgebühr gezeigt. Wird die Selbstbeteiligung zu niedrig angesetzt, hat sie keine Steuerungswirkung. Ist sie zu hoch, besteht das Risiko, dass notwendige Behandlungen nicht mehr in Anspruch genommen werden – was am Ende den Menschen schadet und zu höheren Kosten führt. Diese Balance ist praktisch nicht hinzubekommen.
Zum 1. Januar wird das elektronische Rezept Pflicht in allen Arztpraxen. Geht alles glatt, oder droht ein Fiasko?
Wir haben in den vergangenen Monaten bereits einen steilen, problemfreien Hochlauf erlebt, mit inzwischen rund 12 Millionen ausgestellten E-Rezepten. Ich bin sehr optimistisch, dass die Umstellung überall klappt und niemand ohne die verschriebenen Medikamente dasteht. Schließlich gibt es neben der eRezept-App, bei der eine komplizierte Anmeldung nötig ist, auch die Möglichkeit, in der Apotheke einfach die Versichertenkarte zu nutzen, wobei keine PIN nötig ist. Daneben kann auch der QR-Code beim Arzt ausgedruckt werden. Aber das ist nun wirklich nicht im Sinne des Erfinders und sollte nur ausnahmsweise in Anspruch genommen werden.