Gastbeitrag von Jürgen Rüttgers„Es geht um unser Leben, um unser Land“

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Europa-Fähnchen an einem Info-Stand der pro-europäischen Bewegung „Pulse of Europe“

Europa-Fähnchen an einem Info-Stand der pro-europäischen Bewegung „Pulse of Europe“

Nordrhein-Westfalens früherer Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) ruft nach der Europawahl dazu auf, „unseren Way of Life“ zu verteidigen.

Deutschland hatte die Wahl. Es war eine Schicksalswahl. Es ging am Sonntag in der Wahl zum Europäischen Parlament nicht nur Personen und Parteien. Es ging und es geht um unser Leben, um unser Land, den Alltag, um das Zusammenleben mit unseren europäischen Nachbarn, die zu Freunden geworden sind. Europa ist großzügig. Europa ist freizügig. So ist das neue, das moderne Europa entstanden.

Das Wahlergebnis zeigt, dass die Wähler nicht mehr wollten. Es gab kein Vertrauen und keine Führung mehr. Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Deutschland braucht eine Revitalisierung der gegenwärtigen lahmen Regionalpolitik.

Jürgen Rüttgers Foto: Bernd Woidtke

Jürgen Rüttgers

Vor genau 80 Jahren haben mehr als 150 000 Soldaten aus den USA, Großbritannien und Kanada von den Stränden der Normandie aus begonnen, das alte Europa von der Hitler-Diktatur zu befreien. „I did it for you“. Dieses Wort eines Veteranen, der den D-Day überlebt hat, war eine Devise für den Gedenktag der historischen Invasion.

Ja: Unsere heutigen Freunde waren schon damals nicht „der Feind“. Sie hatten Gutes mit den Völkern Europas im Sinn, auch mit dem deutschen Volk. Junge Männer und Frauen von der anderen Seite des Globus verließen ihr Familien, setzten ihr Leben aufs Spiel – nicht um einen anderen Staatsapparat zu errichten, sondern um Europa von der Diktatur zu befreien, um uns das zu schenken, was sie selbst liebten: Freizügigkeit und Großzügigkeit für jeden Menschen.

Die EU als Ganzes schafft es nur mit der Kraft aller.
Jürgen Rüttgers

Heute geht es darum, wie wir in Zukunft leben wollen. Um ein besseres Leben zu verteidigen, muss kein Bürger in der EU sein eigenes Leben riskieren. Nicht weit von uns entfernt ist das anders. In der Ukraine wird um die Bewahrung des besseren Lebens mit der Waffe gekämpft. Wir dagegen mussten nur wählen gehen.

Dass dieses Europa so möglich wurde, war eine der größten politischen Leistungen der Neuzeit, ein Friedensprojekt gewaltigen Ausmaßes, das nur Gewinner kennt. Aber: Es kann der Frömmste nicht in Frieden legen, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Jeder Staatschef in Europa weiß, dass er allein nicht mithalten kann. Die EU als Ganzes schafft es nur mit der Kraft aller. Wenn Europa geopolitisch, politisch, wirtschafts- und sicherheitspolitisch bedeutsam bleiben und seine Unabhängigkeit wahren will, muss es in weltpolitischen Fragen einig sein und als ein Akteur handeln.

Ansicht der vor 1000 Jahren gegründeten Abtei Brauweiler

Die Abtei Brauweiler wurde vor 1000 Jahren gegründet.

In meiner Heimatstadt Pulheim feiert die altehrwürdige Abtei Brauweiler in diesem Jahr ihr 1000-jähriges Bestehen. Das von einer polnischen Königin gegründete ehemalige Kloster ist nach einer wechselvollen Geschichte heute ein kulturelles Begegnungszentrum. Die Aussöhnung zwischen Polen und Deutscher wird hier von uns Bürgern alltäglich gelebt. Dazu gehört die Aufarbeitung des Hitler-Terrors, dazu gehören aber auch das gemeinsame Feiern, Forschen, Musizieren und Beten. Auch das ist lebendiges und erlebtes Europa.

Das Sommermärchen machen wir selbst wahr, wenn wir nicht den Hetzern und Schreihälsen die Straße überlassen.
Jürgen Rüttgers

In diesen Tagen strömen Tausende Besucher in die Abtei und machen mit bei den vielfältigen Angeboten, vor allem der Kirchengemeinden. Unabhängig von Wahlen wird hier längst gelebt, was Europa eigentlich bedeutet: Miteinander, Verständnis, Respekt und frohes Hoffen auf eine Zukunft, die noch besser sein wird als die Gegenwart.

Hier bei mir daheim, aber selbstverständlich auch im ganzen Land freuen wir uns über ein Europa, das sogar Spaß machen kann. Die Fußball-EM bringt Hunderttausende Fans in unser Land. Das Sommermärchen 2006 ist in bester Erinnerung. Auch dieser Sommer wird – da bin ich mir sicher – ein Sommer der Freude sein. Das Märchen machen wir ja selbst wahr, wenn wir nicht den Hetzern und Schreihälsen die Straße überlassen.

Die Gründung der EU und ihrer Vorläufer war die Konsequenz der Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen. Die EU war und ist ein Friedensprojekt, ein Demokratisierungsprojekt, ein Lebensraum für Erinnerungskultur und die Menschenrechte. Wenn wir sehen, dass dieses Projekt und seine Errungenschaften infrage gestellt werden, müssen wir uns wehren, indem wir unseren „Way of Life“ lebendig halten.


Zur Person

Jürgen Rüttgers, geb 1951, war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1998 Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Der CDU-Politiker engagiert sich in seiner Heimatstadt Pulheim als Vorsitzender des Freundeskreises der Abtei Brauweiler.

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