Eine Jugendstudie des Kölner „rheingold“-Instituts liefert überraschende Einsichten ins Lebensgefühl der 16- bis 24-Jährigen.
Viele Sorgen, wenig PerspektiveNeue Jugendstudie offenbart zunehmenden Rückzug junger Menschen
Sorgen, Unsicherheiten und Perspektivlosigkeit bestimmen den Blick junger Menschen in die Zukunft. Angesichts der vielen Dauerkrisen und der erfahrenen Wirklichkeitsverengung während der Corona-Pandemie hat die zuvor als selbstverständlich erfahrene Bereitstellungskultur Ladehemmung bekommen. Aus „made in Germany“ droht „marode in Germany“ zu werden, die Aussicht auf garantierte wirtschaftliche Prosperität schwindet. Die Ansprüche an die eigene Person und das Leben sind gedeckelt, viele Wünsche und Träume drohen wie Seifenblasen zu platzen.
Das sind zentrale Ergebnisse einer tiefenpsychologischen Studie des „rheingold“-Instituts mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 Jahren. Der Blick auf sich und die Welt führt die jungen Leute in eine Stimmung der Hilflosigkeit und Verlorenheit: „Die Welt ist zu schnell geworden, ich habe das Gefühl, nicht mehr hinterherzukommen.“
Während sie sich ihrer eigenen Bewältigungs- und Gestaltungskompetenz als Heranwachsende und junge Erwachsene noch nicht sicher sind, erleben sie auch ihre Eltern häufig als ähnlich verunsichert und energiearm. Zudem erscheint ihnen ganz Deutschland zunehmend als sinkendes Schiff. Vor allem die Themen Altersversorgung, bezahlbarer Wohnraum, Inflation und Migration und die marode Infrastruktur machen ihnen Sorgen.
Diese Sorgenkulisse steigert sich zu mitunter panischen Ängsten vor Altersarmut, vor Bürger- oder Atomkriegen oder einer Klimakatastrophe. Verstärkt wird dieses Verlorenheitsgefühl durch die fortschreitende Erosion sozialer Gemeinschaften: „Wir haben keinen Generationskonflikt – wir haben einen Konflikt in unserer Generation.“
Statt Konsens-Suche erleben die jungen Menschen in ihrem Umfeld verhärtete, unversöhnliche Lager, Zerstrittenheit und Aggression. Insbesondere in den sozialen Medien werden Meinungskämpfe mit zunehmender Härte geführt: Eigene Positionen zu äußern, führt häufig zu massivem Bashing und zu Ausgrenzung. Die Jugendlichen beschreiben, dass sie ständig Sorge hätten, sich angreifbar zu machen.
Immer extremere Positionierungen
Als Reaktion flüchten die Betroffenen in die Geborgenheit ihres jeweiligen Silos. Hier können sie dem Streit und den Zumutungen der „Cancel Culture“ entgehen, sich gegenseitig bestärken und bestätigen. Das führt jedoch zu immer extremeren Positionierungen in der eigenen Bubble: Man will nur noch das gelten lassen, was zum eigenen Weltbild passt. Die verschiedenen Lager werden dadurch immer unversöhnlicher.
Obwohl die Jugendlichen diese Silobildung bedauern, betreiben sie die Flucht in eine „absichernde Selbstbezüglichkeit“ sehr bewusst. Im engen Kreis guter Freunde und in der eigenen Privatheit fühlen sie sich am wohlsten. Ähnlich wie die Erwachsenen spalten sie die Welt auf in eine private Eigenwelt, die noch überschaubar und sicher ist, und eine bedrohliche Außenwelt, in der schier unlösbare, nicht zu bezwingende Dauerkrisen herrschen. Zwischen dem eigenen Schneckenhaus und der äußeren Bedrohungswelt wird ein Verdrängungsvorhang aufgespannt. So sagen 70 Prozent der Befragten, sie kümmerten sich stärker um sich, ihre Familie, enge Freunde oder ihr Zuhause. O-Ton aus einem der Tiefeninterviews: „Mit den negativen Themen will ich mich nicht ständig belasten.“
Vielzahl psychosomatischer Störungen
Um diesen sicheren „Innenraum“ auf Dauer zu erhalten, offenbaren die Jugendlichen ihre Meinung oder Haltung häufig nicht. Sie setzen quasi eine Tarnkappe auf, um keine Angriffsfläche zu bieten. Dabei eignen sich die Befragten zum Teil beachtliche kommunikative Kompetenzen an, mit denen sie sich chamäleonartig unterschiedlichsten Kontexten anpassen und dabei in Auftreten wie Gebaren einen souveränen Eindruck zu hinterlassen suchen.
Die Tarnkappen-Strategie führt zu einer gestauten Ausdrucksbildung. Wut, Zorn, Streitlust, der Mut zum Eintreten für eigene Positionen werden abgebremst oder unterdrückt. Viele wagen es kaum noch, sich offen, konfrontativ, fordernd zu zeigen, weil sie stark destruktive und persönlich verletzende Gegenreaktionen befürchten. Die gestaute Ausdrucksbildung artikuliert sich in einer Vielzahl psychosomatischer Symptome. Auffällig viele Jugendliche klagen über Schlafstörungen, Müdigkeit, Depressionen, Anspannung, Unruhe und Angstzustände. Auf gesellschaftlicher Ebene manifestiert sich die gestaute Ausdrucksbildung in einer zunehmenden Komplexitäts- und Kompromiss-Müdigkeit, die zu einer wachsenden Demokratie-Müdigkeit führen kann.
Zwischen „Tischlein deck dich“ und „Knüppel aus dem Sack“
Um sich aus diesem Stau herauszubewegen, entwickeln die Jugendlichen zwei unbewusste Erlösungshoffnungen. Zum einen den Wunsch nach einer Wohlfühl-Normalität, in der möglichst die Spielräume, die Sorglosigkeit, die Harmonie und die Freiheiten der Vorkrisenzeit wiederhergestellt und Zukunftspläne wieder realisierbar werden sollen. Alternativ dazu erträumen junge Menschen zum anderen die Auflösung der beschriebenen Spannungen durch radikale Einschnitte und durchgreifende Maßnahmen. 62 Prozent wollen, dass in Krisen mehr durchgegriffen wird.
Die Jugendlichen bewegen sich also zwischen dem harmonisierenden Bild des „Tischlein deck dich“ aus dem gleichnamigen Märchen, in dem alle wieder einträchtig und gut versorgt zusammenleben, und dem radikalen Bild des „Knüppel aus dem Sack“, in dem alle Falschheiten und Probleme entschieden ausgeräumt werden.
Die Politik kann den Jugendlichen – jenseits populistischer Verkürzungen und Scheinlösungen - Wege aus der gestauten Ausdrucksbildung eröffnen. Denn groß ist die Sehnsucht junger Menschen nach authentischer Führung, die nicht autoritär agiert, aber glaubwürdig und fokussiert die Kernthemen voranbringt.
Groß ist auch die Sehnsucht nach konstruktivem Miteinander und richtunggebender Geschlossenheit. Die Bereitschaft ist da, an sinnvollen und greifbaren Zukunftsprojekten aktiv mitzuwirken und so nicht nur Selbstwirksamkeit, sondern auch das Aufgehoben sein in einer übergreifenden Gemeinschaft zu erleben.
Die Jugendstudie des „rheingold“-Instituts wurde im Auftrag des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) erstellt. Sie untersucht neben der Lebenswahrnehmung 16- bis 24-Jährigen und ihrem politischen Denken auch ihre Sicht der Chemie- und Pharmabranche. Im qualitativen, tiefenpsychologischen Teil der Studie wurden 64 Probandinnen und Probanden in zweistündigen Tiefeninterviews befragt. In einem zweiten Schritt wurden die Ergebnisse auf einer Basis von 1233 Teilnehmenden quantitativ abgeglichen.
Die Studie zum Download gibt es hier.