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Kampf gegen RusslandWarum die erwartete Offensive der Ukraine ein Erfolg werden muss

Lesezeit 6 Minuten
Ein ukrainischer Soldat in einem Graben in der Nähe der weitgehend zerstörten ukrainischen Stadt Bachmut.

Ein ukrainischer Soldat in einem Graben in der Nähe der weitgehend zerstörten ukrainischen Stadt Bachmut.

Wann zeigt die Gegenoffensive auf die russischen Besatzer deutliche Erfolge? Die Ukraine kann sich keine Enttäuschungen leisten.

„Es ist Zeit, sich das zurückzuholen, was uns gehört“, schwört der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, seine Soldaten ein. Ein Video zeigt die Kämpfer bei einem Gebet und der Vorbereitung auf die Gegenoffensive.

„Die Gegenoffensive läuft schon seit Tagen“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak in dieser Woche in einem Interview mit dem italienischen Fernsehen. „Unsere Aktionen haben bereits begonnen.“ Schon seit Monaten haben die Regierung in Kiew und das ukrainische Militär eine großangelegte Gegenoffensive angekündigt, um das von Russland besetzte Gebiet zurückzuerobern.

Der Militäranalyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies der ETH Zürich bestätigt im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Wir sehen bereits erste Schläge gegen russische Versorgungslinien und andere Infrastruktur in der Ukraine, die als Teil der Gegenoffensive gesehen werden können.“ Die Ukraine schaffe gerade die Voraussetzungen für größere Operationen. Damit bezweckt sie, die Reaktionsmöglichkeiten der Russen auf einen ukrainischen Vorstoß einzuschränken. „Aber großangelegte Rückeroberungsversuche der ukrainischen Armee sehen wir noch nicht.“

„Offensive Guard“ – hoch motivierte Freiwillige für den Gegenschlag

Die neuen Brigaden, die vom Westen umfassend ausgebildet und ausgerüstet wurden, sollen die Gegenschläge durchführen und russische Truppen zurückdrängen. Unterstützt werden sie von acht Brigaden einer kürzlich gebildeten „Offensive Guard“ – hoch motivierte Freiwillige, die vom ukrainischen Militär für den Angriff ausgewählt wurden. Etwa 35.000 Personen sollen sich beworben haben und wurden anschließend mehrere Wochen lang für die Offensivoperationen trainiert.

Nun muss der Großangriff der Ukraine ein Erfolg werden – aus fünf Gründen.

Abschuss einer Drohne, die von russischen Truppen in Richtung Kiew geschickt wurde.

Abschuss einer Drohne, die von russischen Truppen in Richtung Kiew geschickt wurde.

1. Der Westen hat geliefert – jetzt muss die Ukraine liefern

Die Erwartungen an die ukrainische Gegenoffensive sind enorm, nachdem die westlichen Partner die Ukraine mit modernsten Waffensystemen versorgt haben. Kampfpanzer wie der deutsche Leopard 2, der als einer der besten Panzer der Welt gilt, hat die Ukraine erhalten, britische Storm-Shadow-Marschflugkörper und Langsteckenangriffsdrohnen, aber auch Abrams-Kampfpanzer aus den USA und deutsche Marder-Schützenpanzer. Dazu kommen umfangreiche Munitions- und Ersatzteilpakete. „Die ukrainische Armee steht zumindest indirekt unter Erfolgsdruck“, bestätigt Militäranalyst Masuhr und verweist auf Waffen, Munition und die umfangreiche Ausbildung Tausender ukrainischer Soldaten im Westen. „Mit dem Ausrüstungsniveau der ukrainischen Armee sind auch die westlichen Ansprüche implizit gestiegen.“

In der Ukraine weiß man um die Erfolgserwartungen der westlichen Verbündeten. Der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Kyrylo Budanow, sagte dem US-Sender ABC, der „Erfolg dieser Offensivoperation ist dringend nötig“. Nicht nur für die Ukrainer, sondern auch für ihre Verbündeten, die sie mit Geldern und Munition versorgen. „Ohne Siege werden früher oder später Fragen gestellt, ob es sich lohnt, die Ukraine weiter zu unterstützen.“

Eine deutsche Panzerhaubitze 2000 der ukrainischen Armee feuert auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.

Eine deutsche Panzerhaubitze 2000 der ukrainischen Armee feuert auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.

Bleibt der Erfolg aus, ist die Gefahr groß, dass einige Partner ihre weitere Unterstützung überdenken, so Andrea Kendall-Taylor vom Center for a New American Security. „Je länger der Krieg andauert, desto größer ist die Gefahr, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine nachlässt.“ Schon jetzt gebe es erste Anzeichen dafür in den USA, dass die öffentliche Unterstützung für die Ukraine dort nachlasse, sagt sie bei einer Diskussion des US-Thinktanks Atlantic Council.

Hinzu kommt, dass bald in einigen Ländern, die besonders wichtig für die Unterstützung der Ukraine sind, bald Wahlen anstehen – allen voran in den USA 2024. Verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, könnte die weitere Unterstützung der Ukraine im Wahlkampf infrage gestellt werden. Bei zu geringen Erfolgen könnte der Druck auf die Ukraine steigen, auf Basis russischer Forderungen sogar einen Diktatfrieden zu akzeptieren.

2. Der Gegenschlag muss sitzen

Dass die Ukraine den Beginn der Gegenoffensive noch hinauszögert, liegt Beobachtern zufolge auch am komplizierten Training mit den vielen unterschiedlichen Waffensystemen aus dem Westen. Die Soldaten sollen gut an den neuen Waffen ausgebildet sein, bevor sie in den Kampf geschickt werden. Einer der Gründe dafür: Die Anzahl der Waffen und Munition ist begrenzt, wie Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit dem RND zu bedenken gibt. „Die Herausforderung besteht darin, dass die ukrainische Gegenoffensive auf Anhieb funktionieren muss“, sagt er und fügt hinzu: „Die Ukraine hat keine Materialreserven, um die verschlissenen Kampfverbände noch einmal neu auszurüsten.“

Ohne Siege werden früher oder später Fragen gestellt, ob es sich lohnt, die Ukraine weiter zu unterstützen
Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes

Diese Einschätzung teilt Militäranalyst Masuhr. „Die Qualität und die Quantität der westlichen Unterstützung haben einen Höhepunkt erreicht, den die Partner – unabhängig vom politischen Willen – zeitnah nicht wiederholen können.“

Bereits bei der ukrainischen Offensive im vergangenen Jahr stellte sich heraus, dass der Krieg extrem munitionshungrig ist. In Hochzeiten wurden 80.000 Schuss am Tag abgefeuert, einige Beobachter vermuteten sogar eine sechsstellige Zahl. Die Munition wird deutlich schneller verbraucht, als der Westen sie nachproduzieren kann. „Die westlichen Staaten haben selbst schon Probleme, Waffensysteme und bestimmte Munitionstypen zeitnah nachzufüllen“, macht Masuhr die schwierige Lage deutlich.

3. Offensive erfordert neue Fähigkeiten

Die bevorstehende Offensive der Ukraine wird nicht die letzte sein. Sie wird jedoch den weiteren Kriegsverlauf beeinflussen und die ukrainischen Streitkräfte müssen neue Fähigkeiten unter Beweis stellen. Denn diese Offensive wird aller Voraussicht nach anders verlaufen als die ukrainischen Offensiven im vergangenen Jahr. „Wir wissen nicht, ob diese Gegenoffensive vielleicht sogar entscheidend sein wird“, sagt Militäranalyst Masuhr. Doch jetzt müsse die Ukraine zum ersten Mal stark ausgebaute russische Befestigungslinien durchbrechen.

Die Folgen eines russischen Raktenangriffs am 26. Mai auf Dnipro, Partnerstadt Kölns.

Die Folgen eines russischen Raktenangriffs am 26. Mai auf Dnipro, Partnerstadt Kölns.

Russland hat entlang der mehr als 1200 Kilometer langen Frontlinie große Minenfelder, Panzergräben und tief gestaffelte Verteidigungsstellungen errichtet, um die ukrainischen Truppen auszubremsen und unter schwerem Artilleriefeuer zurückschlagen zu können. „Das ist etwas, womit die ukrainischen Streitkräfte nicht annähernd in dieser Größenordnung konfrontiert waren“, sagt Masuhr zu den Befestigungslinien. Wie schwer ein Durchbruch sein wird, hängt vor allem davon ab, mit wie vielen Kräften die Russen diese Stellungen bewachen und ob sie in der Lage sein werden, mit viel Feuerkraft den Angriff abzuwehren.

4. Die Ukraine ergreift die Initiative

Nachdem Russland über Monate die Oberhand im Krieg hatte, sind die Truppen inzwischen stark dezimiert und zu keiner weiteren Offensive mehr fähig. Nun ist die Ukraine am Zug, will mit der Gegenoffensive die Initiative ergreifen und während dieser Zeitspanne möglichst große Geländegewinne verbuchen. „Die ukrainische Armee hat aktuell ein Gelegenheitsfenster auf Ausrüstungsseite, das sich ihr so schnell nicht wieder bieten wird“, so Masuhr, auch wenn der Zustand der russischen Truppen hier natürlich in die Gleichung mit hineinspiele.

5. Starke Ukraine – schwaches Russland

Zu Beginn des Krieges hatten viele Experten der Ukraine keine echten Chancen gegen das scheinbar übermächtige Russland gegeben. Aus diesem Eindruck habe sich die Regierung in Kiew herausgearbeitet, so Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. „Die Ukraine versucht, sich im Informationsraum als eine Kriegspartei darzustellen, die den Krieg gewinnen kann“, sagt er dem RND. Dazu sei ein schwacher Gegner, ein schwaches Russland, sehr gut geeignet.

Seit Wochen heißt es immer wieder, die russischen Einheiten seien abgenutzt, stark geschwächt und Zusammenhalt und Moral der russischen Soldaten sehr schlecht. Russland schwach zureden funktioniere jedoch nur, so Jäger, wenn es auch Situationen gebe, in denen die Russen tatsächlich schwach seien. Auf dem Schlachtfeld muss die Ukraine nun demonstrieren, wie schwach Russland wirklich ist und ob das Narrativ zutrifft.

Militäranalyst Masuhr warnt aber vor überhöhten Erwartungen: „Wir haben insbesondere online und in den Medien schon gehört, dass die Ukraine den Krieg so gut wie gewonnen habe.“ Er verweist darauf, dass die ukrainische Regierung zuletzt immer wieder die Erwartungen an die Offensive gedämpft hat. „Manche Erwartungen sind ziemlich überzogen“, sagt der ETH-Militäranalyst. Es sei beispielsweise unwahrscheinlich, dass die ukrainischen Streitkräfte in wenigen Wochen vor der Krim stünden.