Durch das Raster gefallenHunderte Menschen in Köln sind nicht krankenversichert
Köln – Behutsam setzt er den linken Fuß auf die Stufe und zieht den rechten hinterher. Noch einmal: links vor, rechts hinterher. Er geht noch etwas unrund, aber die Schmerzen lassen nach, die Behandlung schlägt an. Und so grinst Hermann Schmidt, der eigentlich anders heißt, übers ganze Gesicht, als er die Treppenstufen der Praxis hinuntersteigt. „Ich gehe nur zum Arzt, wenn es unbedingt notwendig ist. Bei Zahnschmerzen, die lange anhalten, oder wie jetzt bei einer Verletzung, die nicht ausheilt.“ Erst als die Schmerzen am Fuß nicht mehr auszuhalten waren, reagierte er. Hermann Schmidt hat keine Krankenversicherung.
„Ich habe viele Jahre im Ausland gelebt, zuletzt in Italien. Als ich vor vier Jahren zurück nach Köln kam, hatte ich keine Krankenversicherung in Deutschland. Um einer Krankenversicherung beitreten zu können, benötige ich ein Formular aus Italien, das vor Ort ausgefüllt werden muss. Dafür muss ich aber dorthin reisen, das ist mir nicht möglich“, erklärt der große Mann mit der rheinischen Färbung in der Stimme. „Ich habe nun vier Jahre erlebt, was es heißt, nicht versichert zu sein. Zu lange in meinem Alter.“ Hermann Schmidt ist Ende 50. Zurück in eine gesetzliche Krankenkasse kann er nicht mehr, das ist nur bis 55 möglich.
Wie Hermann Schmidt geht es vielen. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2019 rund 61.000 Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung. Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl derjenigen, die dringend benötigte Behandlungen nicht bekommen, als deutlich höher ein. Denn die Zahlen des Statistischen Bundesamtes basieren auf dem Mikrozensus, einer repräsentativen Umfrage von Haushalten in Deutschland. Nicht behördlich registrierte Geflüchtete, Illegalisierte oder Wohnungslose werden dabei nicht erfasst. Wenn man die unterschiedlichen Gruppen zusammenfasst, sind vermutlich mindestens 500.000 Menschen in Deutschland größtenteils oder vollständig von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.
„Er wäre zwei Tage später gestorben“
So wie Lukas. Der Rumäne lebt seit vier Jahren in Deutschland. Zwei Jahre hatte er einen Job. Seit er einen Herzinfarkt erlitt und rund 4.000 Euro für Operation und Krankenhausaufenthalt draufgingen, ist er auch wohnungslos. Rumänische Staatsbürger, die weniger als fünf Jahre in Deutschland leben und arbeitslos sind, haben keinen Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung, wenn sie nicht bereits zuvor versichert waren.
Heute kniet Lukas nicht wie üblich auf der Domplatte und bemalt mit bunter Kreide das Pflaster. Heute steht er vor der Praxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (kurz MMM) am St. Hildegardis-Krankenhaus in Lindenthal. Als Hermann Schmidt hier grinsend die Treppe hinunterkommt, nickt Lukas ihm zu und betritt das kleine Gebäude. Hinter ihm warten bereits eine kongolesische Frau mit Baby und Kleinkind, dahinter ein junger Mann und seine Schwester, die ihre Mutter stützen. Wegen der Corona-Abstandsregeln müssen sie draußen warten.
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Seit 15 Jahren werden in der Sprechstunde der MMM in Köln Nichtversicherte von Ärzt*innen ehrenamtlich behandelt, beraten und gegebenenfalls an die Clearingsstelle Migration und Gesundheit der Stadt Köln verwiesen. 2019 wurden 347 Menschen zum ersten Mal im MMM behandelt, insgesamt führten die rund 30 Ärzt*innen im letzten Jahr 1.724 Behandlungen durch. „Ungefähr 60 Prozent sind chronische Patienten. Die haben zum Beispiel Bluthochdruck oder Diabetes“, erklärt Nephrologin Imke Kreuzer. „30 Prozent sind akute Fälle, ganz selten gibt es Notfälle, wie eine Magenblutung oder einen Bruch.“ Seit acht Jahren arbeitet die Ärztin zweimal im Monat im MMM in der Erwachsenensprachstunde, sonst ist sie in ihrer Praxis in Leverkusen tätig.
Im MMM wird sie heute von Internist Johannes Heitmann unterstützt. Der 43-Jährige engagiert sich seit diesem Frühjahr für Nichtversicherte. „Hier gibt es Fälle, die ich normalerweise im deutschen Gesundheitswesen nicht sehen würde.“ Wie einen 30-jährigen Marokkaner, der seit der Kindheit Diabetes hat. „Er ist zwingend auf Insulin angewiesen, bekam aber keines, weil er nicht versichert ist. Wir haben es geschafft, mit viel Telefoniererei, ein paar Ampullen zu besorgen. Er wäre sonst zwei Tage später gestorben.“
Der Druck, nicht krank werden zu dürfen, ist hoch
Dieser Diabetes-Patient, Lukas und Hermann Schmidt sind nur drei Beispiele für Nichtversicherte. Eine große Gruppe sind Selbstständige, die sich ihre Versicherung nicht leisten können. Durch die Corona-Krise werden es immer mehr. Von März bis September erhielten beispielsweise 6.244 Mitglieder der Künstlersozialkasse (KSK) Mahnungen, weil sie ihre Beiträge nicht zahlen konnten. Auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes bestätigte die KSK, dass in 1.990 Fällen Versicherungsleistungen wie Medikamente oder ärztliche Behandlungen bis zur Begleichung rückständiger Versicherungsbeiträge ausgesetzt wurden. Bei Nichtzahlung der Beiträge geht der Versicherungsschutz nicht verloren, wird aber auf Notfälle reduziert.
Seit 2009 besteht in Deutschland eine Versicherungspflicht. Das bedeutet, dass gesetzliche Krankenkassen verpflichtet sind, Nichtversicherte, die einen Anspruch auf eine Krankenversicherung haben, (wieder)aufzunehmen. Bei einer Wiederaufnahme müssen die in der Zwischenzeit angefallenen Beträge nachgezahlt werden – das sind schnell mehrere Tausend Euro, die Krankenkassen erlauben in der Regel eine Zahlung in Raten. Seit 2019 gibt es das GKV-Versichertenentlastungsgesetz, das einerseits Selbstständige durch eine Minderung des Mindestbetrags entlastet, andererseits den Krankenkassen vorschreibt, sich von Versicherten zu trennen, die ihre Beiträge nicht zahlen, keine Leistungen in Anspruch nehmen und zu denen sie keinen Kontakt herstellen können.
Hunderte Euro für einen Krankenhausaufenthalt
Wer keine Versicherung hat, für den kann es teuer werden. Der Druck, nicht krank werden zu dürfen oder sich zu verletzen, sei hoch, sagt Hermann Schmidt, der im Baugewerbe tätig ist. „Bei Krankenhausaufenthalten fangen die Rechnungen bei 500 bis 800 Euro an, so meine Erfahrung. Normale Arztbesuche sind für mich finanziell noch zu ertragen.“ Darum suchte er zuerst Hausarztpraxen auf. „Dort wurde ich aber als Nichtversicherter sehr ungern angenommen und unfreundlich behandelt. Ich kam mir wie ein minderwertiger Mensch und wie ein Blender vor, obwohl ich ja alles selbst zahlte.“ Bei den Maltesern sei das anders. „Hier werde ich höflich und menschlich aufgenommen. Es interessiert nicht, aus welcher Gesellschaftsschicht ich komme und wie viel Vermögen ich mitbringe. Die Behandlung ist professionell und sorgfältig.“
Damit dies weiterhin so bleibe, seien sie auf Unterstützung angewiesen, sagt Johannes Heitmann. Auf Spenden und Kolleg*innen: „Im Prinzip haben wir hier eine allgemeinmedizinische Hausarztpraxis, aber keine Möglichkeit, jemanden zu überweisen. Darum wünschen wir uns eine größere Vernetzung mit niedergelassenen Fachärztinnen und -ärzten in Köln, die zum Beispiel einmal im Quartal eine Patientin physiotherapeutisch behandeln, einen Patienten röntgen oder eine Magenspiegelung umsonst machen.“