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Eigenständigkeit lernenWie eine Kölner Schule die Corona-Krise vorbildlich meistert

Lesezeit 6 Minuten
Tablets-in-der-Heliosschule

Schüler in einem Klassenraum der Heliosschule arbeiten auf Tablets . Das Foto wurde im November 2019 aufgenommen. Alle Kinder an der Helios-Schule haben ein Tablet. Und die meisten wissen auch, wie man damit umgeht.

  1. Dass unser Schulsystem reformiert werden muss, ist keine neue Corona-Erkenntnis. Sie erreichen aber eine andere Dringlichkeit. Lehrer müssen digitale Arbeiten sogar noch dringender lernen als ihre Schüler.
  2. Die Helios-Schule in Köln zeigt, wie manches besser ginge – auch in den Zeiten nach der Pandemie. Eigenständigkeit wird im Unterricht großgeschrieben.
  3. Schulleiter Andreas Niessen betrachtet kritisch, wer die Schularbeit in der Corona-Krise fast alleine schultern muss.

Köln – An diesem Morgen besucht Andreas Niessen die Chat-Runde einiger seiner Schüler. Der Leiter der Helios-Gesamtschule ist tatsächlich nur Gast. Denn die Jungen und Mädchen organisieren sich hier im virtuellen Raum selbst. Täglich um halb neun besprechen sie sich, verschaffen sich Orientierung und wählen Aufgaben aus. Heute nutzen sie die Gelegenheit, um sich gegenseitig ihre Lieblingsbücher vorzustellen. Es läuft. Fast wie von selbst.

Die Schüler der fünften und sechsten Klasse hatten ihre Tage auch schon vor der Pandemie eigenständig geplant. Während des Lockdowns dann fanden ihre Absprachen per Videokonferenz statt, so wie überhaupt ein Großteil des Unterrichts beinahe nahtlos ins Digitale übertragen werden konnte. Möglich war dies nicht nur, weil jedem der 220 Kinder ein Tablet zur Verfügung steht. Die meisten unter ihnen wissen auch, wie man damit umgeht. Und: Viele sind darin geschult, Entscheidungen zu treffen und mit wenigen Anweisungen zu arbeiten. Eine Fähigkeit, die sich die meisten Eltern im Heimunterricht besonders herbeigesehnt haben dürften.

Mehr Eigenständigkeit

Es bedurfte keiner Corona-Krise, um dem deutschen Schulsystem Reformbedarf zu attestieren. Die Forderungen, die jetzt formuliert werden, sind nicht neu. Sie erreichen aber eine andere Dringlichkeit. 69 Prozent der Lehrkräfte sehen jetzt den größten Verbesserungsbedarf bei ihren eigenen Kompetenzen mit digitalen Lernformen, 64Prozent bei der technischen Ausstattung der Schule – und mehr als die Hälfte bei dem Verständnis darüber, wie neue Formate überhaupt sinnvoll eingesetzt werden sollen. 67 Prozent wollen ihre Schüler stärker dazu befähigen, mehr Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen.

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Diese Ideen verfolgt die Ehrenfelder Helios-Schule bereits seit ihrer Gründung vor fünf Jahren. Das Konzept der „Inklusiven Universitätsschule“ entwickeltet die Humanwissenschaftliche Fakultät in Köln und wird nun mit starker Unterstützung durch die Stadt in einer Grund- und einer Gesamtschule umgesetzt. Sie ist außerdem Teil eines regionalen Netzwerks, das von der gemeinnützigen „Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft“ initiiert wurde.

Im Fokus der Kooperation steht die Frage, wie Lernprozesse mit digitalen Medien gestaltet und unterstützt werden können. Das Krisenfazit bestätigt den Schulleiter in seinem bisherigen Schulkurs insbesondere in einem Aspekt: „Wer keine Routine entwickelt hat, sich selbst als handelndes und entscheidendes Subjekt wahrzunehmen, kann nicht allein arbeiten, auch nicht zu Hause,“ sagt Niessen. Die Einrichtung verzichtet deshalb auf die üblichen starren Vorgaben und bringt den Kindern bei, sich im Rahmen des Lehrplans autonom zu bewegen. Mit wem arbeite ich jetzt wo in welchem Fach und welchen Aufgabentyp suche ich mir aus? Kindern stehen Werkstätten zur Verfügung und Lernzeiten, die sie in so genannten Lernlandschaften frei nutzen können. Es geht um den Erwerb von Kompetenzen – und weniger um Noten.

Zur Realität gehört allerdings auch, dass nicht alle Schüler die angestrebte Eigenständigkeit erreichen. Zumindest nicht gleichermaßen. Wer sich nicht motivieren kann, soll aber Begleitung bekommen, gezielten Zuspruch. „Wir wollen keinen zur Arbeit zwingen und niemandem mit schlechten Noten drohen“, sagt Niessen. „Schlechte Noten, kein Abschluss, kein Job – so ist ja bislang sanktioniert worden.“

Die Helios-Gesamtschule in Köln Ehrenfeld geht als „inklusive Universitätsschule“ neue Wege.

Der alternative Weg kostet Ressourcen. Damit sich Kinder ermutigen lassen, brauchen sie vor allem eine gute Beziehung zu ihren Lehrern. „Das sagt sich leicht, ist aber ein hoher Anspruch“, räumt Niessen ein. Dafür sind Lehrkräfte nötig, die nicht nur instruktiv arbeiten, sondern die sich auch als Teamplayer und Explorer verstehen. Als jemand, der Gelegenheiten erkennen und nutzen kann. Wie jetzt im digitalen Fernunterricht während der Krise: Die neue Kommunikation hat einige Lehrer und Schüler einander viel näher gebracht. Denn plötzlich ist es möglich, individuell auf Kinder einzugehen und diese sind in der Lage, neue Fertigkeiten zu entwickeln. Allerdings ist dieses konzentrierte Arbeiten nur möglich, weil die Sozialarbeit in der Schule gerade wegfällt. In der Krise übernähmen die Eltern zu Hause diese Aufgabe. Insbesondere die Mütter schulterten die Verantwortung, was Niessen sehr kritisch betrachtet. Wollte man diese Bindung zu den Schülern im Präsenzbetrieb beibehalten, sei das nur mit mehr und eben offenem Personal möglich.

Und – ginge es nach Niessen – auch mit Menschen aus ganz anderen Berufen: „Warum sollten nur Lehrer an Schulen angestellt werden? Wir bräuchten multiprofessionelle Teams. Handwerker, Gärtner, Köche, Menschen aus dem Leben.“ Das ermögliche andere Lernformen, von denen die Kinder profitieren könnten, die es nicht schaffen, 45 Minuten lang brav still zu sitzen. Die seien im herkömmlichen Schulsystem völlig benachteiligt. „Die gehen mit einem Sonderpädagogen in einen anderen Raum. Aber das kann doch auch keine Lösung sein.“

Stellen dafür zu bekommen, sei derzeit jedoch schwierig bis unmöglich. Im Moment sei es schon mühsam, überhaupt Lehrer für die Gesamtschule zu finden. Das liegt nicht nur am Lehrermangel, sondern daran, dass Gymnasien mit besser dotierten Stellen locken. „Es gibt einfach eine krasse Benachteiligung durch geringere Bezahlung von Lehrern an Gesamtschulen.“

Digitales Logbuch

Unterstützung erhofft sich die Schule weiterhin von der technischen Seite: Die Montag Stiftung Gesellschaft und Jugend entwickelt derzeit ein digitales Instrument, das Schülern und Lehrern bei der Selbstorganisation helfen soll. „Bisher wurden Lernprozesse aus der Perspektive der Lehrenden gedacht“, sagt Meike Kricke, Vorständin der gemeinnützigen Organisation.

Die letzten Wochen hätten deutlich gezeigt, wie unterschiedlich Lehrkräfte arbeiten. Schüler mussten sich immer wieder anpassen. Ein digitales Logbuch, eine App, die auf den Smartphones der Kinder läuft, soll Abhilfe schaffen. „Die Software ist schülerzentriert und gibt den Lernenden Tools an die Hand, die sie darin begleiten, Lernen zu lernen“, sagt Kricke. Nicht nur Lehrer, auch die Schüler konnten sich mit ihren Forderungen bei der Gestaltung des digitalen Logbuchs einbringen.

Rückfall in alte Muster

Ist die Krise tatsächlich eine Chance? „Fifty-fifty“, sagt Niessen. Durch die Vorgaben der Infektionsschutzes falle der Unterricht in den allermeisten Schulen zunächst wieder in alte Muster: Nur Instruktion, keine Teamarbeit, keine Bewegung. „Ich kenne alleine 20 Kinder, die das nicht aushalten. Was passiert mit denen? Sollen wir die wieder nach Hause schicken?“

Mit Klagen jedenfalls verändere man nichts. „Wir packen an. Aber ich stelle mir ernsthaft die Frage, wie groß die Lobby der Kinder wirklich ist. Wenn Veränderungen politisch oder gesellschaftlich nicht gewollt sind, dann sind wir verloren.“

Lernbriefe zum Ende

Unterdessen geht das Experiment an der Helios-Schule mit großem Idealismus weiter – und das erste Corona-Halbjahr zu Ende. „Die Vorgabe lautet, den Kindern das letzte Zeugnis noch einmal auszuhändigen. Aber was hat das für einen Wert?“, fragt Niessen. „Wir haben beschlossen, jedem Kind außerdem einen Lernbrief zu schreiben.“ Keine Ziffern, dafür die präzisen Beobachtungen der Lehrkräfte werden notiert. „Aber wir beziehen dabei auch die Einschätzungen der Kinder selbst und ihrer Mütter und Väter mit ein.“