Im Zweiten Weltkrieg diente Kai Beckmanns Vater im Kölner Polizeibataillon 69, das am Massenmord an Juden mitverantwortlich war. Die Beteiligung seines Vaters ließ Kai Beckmann nie los – seinen Vater ebensowenig.
Kölner Nachfahren von NS-Tätern„Eine Verurteilung hätte meinem Vater gutgetan“
Kai Beckmann ist elf Jahre alt, als es aus seinem Vater herausbricht. Es geschieht an einem Abend Ende der 60er Jahre, Vater und Sohn sitzen im Wohnzimmer, der Wuppertaler Prozess gegen einen führenden Angehörigen des Polizeibataillons 69 steht kurz bevor. Johann Beckmann wird als Zeuge vernommen. Nie zuvor hat der Vater Kai Beckmann gegenüber das Polizeibataillon erwähnt, nie darüber gesprochen, was er im Krieg getan hatte. An diesem Abend aber ist er nicht zu stoppen.
Er beschreibt, wie die SS in Winnyzja Juden aus den Häusern trieb, wie sie alle in Lkw zwangen, um sie für eine Massenerschießung aus der Stadt zu schaffen. Wie das Bataillon 69 Absperrungen an den Straßen errichtete, damit niemand entkommen konnte. Wie er, Johann Beckmann, an so einer Straßenecke stand, absperrte und zusah, wie Männer, Frauen und Kinder in ihren Tod liefen.
Der Vater bricht in Tränen aus, er redet trotzdem weiter. Und Kai Beckmann hört erschüttert zu, wie sein sonst so warmherziger Vater, der ihn gut und schlecht zu unterscheiden lehrte, von den Verbrechen in Winnyzja erzählt. „Das hat mich fertig gemacht“, sagt er. Kurze Pause. „Es macht mich heute noch fertig.“
„Hätte ich meinen Vater nicht gehabt, wäre ich vermutlich ein richtiges Arschloch geworden“
Das Verhältnis zu seinem Vater war immer sehr gut, sagt Kai Beckmann heute, der wie sein Vater eigentlich anders heißt. Beckmann, ein großer schlanker Mann im frühen Rentenalter, sitzt in einem Café in Bonn, im Hintergrund röhrt die Kaffeemaschine, hinter der Fensterscheibe schlendern Besucher durch den botanischen Garten. „Hätte ich meinen Vater nicht gehabt, wäre ich vermutlich ein richtiges Arschloch geworden.“ Wo die Mutter polarisierte, bestrafte und streng erzog, war der Vater nachsichtig. „Er war freundlich. Das ist das erste Wort, das mir zu ihm einfällt“, sagt Beckmann. „Mein Vater hatte einen beruhigenden Einfluss. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an ihn.“
Auch deshalb lässt der Ausbruch seines Vaters an diesem einen Abend ihn nie wieder los. Weil seine Schilderungen von den Verbrechen in Winnyzja einfach nicht zu seinen Erinnerungen an den Vater passen. Aber er wagt nicht, ihn noch einmal auf Winnyzja anzusprechen. Nach dessen Tod 1996 nimmt Beckmann eine Kiste aus dem Wohnzimmerschrank an sich, in der der Vater Dokumente und Fotos aus dem Krieg aufbewahrte. Mit dieser Kiste beginnen seine Nachforschungen. „Ich hatte das Gefühl: Jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich ihn nicht mehr fragen“, sagt Beckmann. „In unserer Familie sind zu viele Dinge nicht ausgesprochen worden.“
„Das größte Schimpfwort ist Kamerad“, sagte Johann Beckmann
Manches aber schon, was ein Bild des Vaters zeichnet. Johann Beckmann, geboren 1908, wächst in einem christlichen Elternhaus auf, nach der Schule machte er eine Lehre bei der Bank. Die NSDAP wird in seiner Familie nicht gewählt. Trotz Drängen seines Arbeitgebers tritt Johann Beckmann nie in die Partei ein. Aber als er und sein Cousin in den 1930er Jahren eine Paddeltour auf dem Rhein unternehmen, fährt ein Schiff an ihnen vorbei, an Deck Adolf Hitler mit NSDAP-Führungskräften. Beide Männer springen begeistert auf, reißen den rechten Arm in die Höhe, brüllen den Hitlergruß. Wieso, sagte Johann Beckmann später seinem Sohn, sei ihnen beiden ein Rätsel gewesen.
1940 wird Beckmann eingezogen und einem Polizeibataillon zugeteilt. Anfangs werden die Männer für den Luftschutz in Köln eingesetzt, dann schickt man sie nach Luxemburg, nach Frankreich, später weiter nach Osteuropa, nun als Teil des Polizeibataillon 69.
In Beckmanns Kiste liegt eine französische Landkarte, „Pneu Michelin, Clermont-F-Lyon“. Auf beiden Seiten kleben Fotos: Männer in Badehosen, die am Strand der Côte d’Azur in die Kamera lächeln. Eine Gruppe Uniformierter vor einem Trümmerhaufen.
Als die Mutter vorschlägt, Kai bei den Pfadfindern anzumelden, ist der Vater vehement dagegen. Kommt gar nicht infrage, dass er Uniform trägt, sagt er.
Fremde Städte und fremde Wälder, durch die Soldaten streifen. Ein zerstörtes Gebäude in Köln. Beckmann an Weihnachten im Wohnzimmer seiner Familie, die Augen weit geöffnet, der Mund verkrampft.
„Das größte Schimpfwort“, sagt Johann Beckmann, „ist Kamerad“. Als der Sohn den Wehrdienst verweigern möchte, unterstützt ihn sein Vater.
Lachende Gesichter und freie Oberkörper in Hängematten. Zivilisten, die über eine matschige Straße und mit einem Sack auf dem Rücken ihr Dorf verlassen. Menschen mit sorgensteifen Gesichtern, in ziviler Kleidung, umringt von Soldaten, die mit einem Beutel Besitztümer einen Eisenbahnwagon betreten. Eine Einheit uniformierter Soldaten, die im Gleichschritt marschierend in die Kamera grinst.
„Du hast keine Ahnung, was für Schweine es auf der Welt gibt“, sagt Johann Beckmann einmal zu Kai. „Vor allem die, die Uniform tragen.“
Ein Dutzend Soldaten stehen in Formation im Schnee, sie haben das Gewehr angelegt, schießen in die Luft. Eine zerstörte Brücke. Ein Grabhügel im Schnee, darauf ein Name aus Steinen. Johann Beckmann, der in Uniform auf den Reifen eines Autos hockt. Ein Führerschein, ausgestellt im Jahr 1942 auf Johann Beckmann, unterschrieben vom Major der Schutzpolizei, daneben wurde „Ordnungspolizei Polen“ aufs Papier gestempelt.
„Du hast doch einen Führerschein – wieso haben wir eigentlich kein Auto?“, fragt Kai Beckmann den Vater. „Ich packe nie wieder ein Auto an“, antwortet er.
Polizeibataillon 69 war an Mordaktionen gegen Juden mit Tausenden Todesopfern beteiligt
Heute lässt sich schwer nachvollziehen, wo genau Beckmann in allen Kriegsjahren eingesetzt war. Auch, welche Aufgaben er hatte, ist nicht ganz klar. Ab 1942, nachdem er seinen LKW-Führerschein bekommen hatte, war er offenbar in der Kraftfahrstaffel eingesetzt. Ob Johann Beckmann in den LKW Lebensmittel, Soldaten oder Gefangene transportierte, bleibt unklar. Wie weit Johann Beckmanns Beteiligung an den Verbrechen seines Bataillons ging, lässt sich ebenfalls nicht unabhängig prüfen. Alles, was noch existiert, sind die wenigen Erlebnisse, die der Vater mit seinem Sohn geteilt hat, die Fotos in einer Kiste, die Erinnerungen Kai Beckmanns an seinen Vater.
Bei der deutschen Teilung wird die Familie der Mutter getrennt, die Beckmanns nutzten die Schulferien, um Verwandte in der DDR zu besuchen. Als an der Grenze Soldaten den Zug betreten, blickt der Vater ihnen starr vor Wut entgegen. „Ich dachte, er explodiert gleich“, sagt Kai Beckmann. Die DDR-Soldaten tragen eine Uniform, die der Wehrmachtskleidung stark ähnelt.
In der Forschungsliteratur zu den Polizeibataillonen steht: Die 1. Kompanie des Polizeibataillon 69 war „an Mordaktionen im Raum Winnyzja, Lithin, und Nowa-Ukraina beteiligt, bei denen mehrere Tausend Menschen erschossen wurden. Die Opfer waren zumeist Juden.“
Tatort 1: Winnyzja. Tatzeit: September 1941. „Die Bataillonsangehörigen sperrten die Straßen ab, während der SD (Anm. d. Red: „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“) die Juden verhaftete. Die Juden wurden (…) außerhalb der Stadt vom SD erschossen.“
Die zweite „Aktion“ wurde im Januar 1942 in Lithin ausgeführt. „Ein Fahrer des Polizeibataillons 69 fuhr die SD-Offiziere mit einem Pkw nach Lithin, wo Juden auf dem Marktplatz zusammengetrieben worden waren. Dann wurde dem Fahrer gesagt, dass sie außerhalb des Ortes erschossen würden.“ Der Fahrer des Polizeibataillons beobachtete die Exekution. „Die Grube war etwa 100 Meter lang und zehn Meter breit. Die Opfer mussten sich entkleiden, jeweils zehn Juden mussten in die Grube gehen und sich auf bereits erschossene Opfer legen. Die Erschießungsaktion wurde mit Maschinenpistolen durchgeführt. Sie dauerte bis in den späten Abend.“
Verbrechen des Polizeibataillons lassen Kai Beckmann nicht los
1943 versetzte die Ordnungspolizei das Polizeibataillon 69 in die Niederlande, 1943 wurde das gesamte Regiment nach Frankreich verlegt und in der Nähe von Marseille eingesetzt. „Ab Februar 1944 ‚befriedete‘ die Truppe in Jugoslawien.“
Sein Vater fuhr oft in den Urlaub, sagt Beckmann, doch er reiste nicht gerne ins Ausland. In den 80er Jahren fahren die Eltern zur Kur nach Österreich, an den Ort, wo am Ende des Zweiten Weltkriegs die SS gegen die Tito-Rebellen aus Jugoslawien kämpfte, darunter auch die Einheit von Johann Beckmann. In der Nacht schreckt der Vater hoch, steht senkrecht im Bett, brüllt, schreit, weint. „Ein Nervenzusammenbruch“, sagt die Mutter zu Kai Beckmann, „der ist ausgeflippt“. Zurück in Köln verbrennt die Mutter einige Fotos und Notizbücher aus der Kiste in dem Wohnzimmer der Beckmanns. Damit er endlich davon loskommt, sagt die Mutter. Kai Beckmann ist sauer: Ihm fehlen nun entscheidende Dokumente, um die Reaktionen seines Vaters zu verstehen.
In gewisser Weise sei er nicht nur Nachkriegsgeneration, sagt Kai Beckmann. Die Geschichte seines Vaters durchdringt auch sein Leben. Wieso hatte sein Vater mitgemacht? Und hätte er, Kai Beckmann, den Mut gehabt, zu verweigern? Sein Vater sei seiner Überzeugung nach „in eine Sache hineingeraten, hinter der er gar nicht stand“, sagt Beckmann. „Aber er hat die Uniform getragen.“
Vehement versucht der Sohn, die Fehler seines Vaters zu vermeiden. Egal, in welcher Dimension. Beckmann hinterfragte bei seiner Arbeit im öffentlichen Dienst fast schon pedantisch Entscheidungen – auch, wenn es nicht um Kriegsverbrechen, sondern um Bauaufsicht ging. „Ich hatte Angst, in Strukturen hineinzukommen, wo ich Dinge mittrage, die ich persönlich nicht verantworten kann.“
Zeugenaussagen aus dem Wuppertaler Prozess ähneln sich
Die Frage, was sein Vater während des Krieges genau getan hat, beschäftigt den Sohn jahrelang. Er starrt auf jedes Foto aus der Kiste, durchwühlt stapelweise Bücher über Polizeibataillone, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg. Nächtelang liest er, geht am nächsten Tag übermüdet zur Arbeit, stürzt sich anschließend zurück in die Recherche. Als ihm irgendwann alles zu viel wird, kontaktiert Kai Beckmann das NS-Dokumentationszentrum in Köln. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter kommt zu ihm nach Hause, sie sprechen lange. Er nimmt die Kiste mit.
Der Mitarbeiter schickt Kai Beckmann auf seinen Wunsch auch Auszüge aus einem Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Polizeibataillons 69 - darunter auch Johann Beckmanns Zeugenaussage.
Bei seiner Vernehmung schildert Johann Beckmann den Tag in Winnyzja, berichtet, wie er an einer Querstraße absperrte und sah, wie Tausende Juden an ihm vorbeigetrieben wurde. Wie ein Sanitäter der Kompanie später zur Unterkunft zurückkehrte und erzählte, wie die Menschen sich entkleiden und in die Grube rutschen mussten, wo sie allesamt erschossen wurden. Ein jüdisches Mädchen, das im Sanitätszelt gearbeitet hatte, habe den Sanitäter noch um Hilfe angefleht. Dann zogen Soldaten auch sie zur Grube.
Namen nennt Johann Beckmann keine. Er erhebt auch keine Anschuldigungen. Seine Aussage und die der anderen Zeugen hätten sich alle geähnelt, sagt sein Sohn. „Wie bei der Mafia.“ Vermutlich, glaubt Kai Beckmann, haben sich die ehemaligen Mitglieder des Polizeibataillons vorher abgesprochen. „Das hat mich doch erschreckt“, sagt er. „Wenn mein Vater noch leben würde, dann würde ich ihn darauf ansprechen. Ich würde ihn fragen, wieso er das mitgemacht hat.“
Dass es heute noch Prozesse zu NS-Verbrechen gibt, dass auch KZ-Sekretärinnen und Wachleute sich nun vor Gericht verantworten müssen, begrüßt Kai Beckmann. Denkt er, auch gegen Johann Beckmann müsste ein Prozess laufen, würde er noch leben? Ja, sagt der Sohn, das fände er richtig. Hätte der Vater es gerechtfertigt gefunden? Beckmann überlegt kurz. „Ich kann es mir vorstellen“, sagt er dann. „Eine Verurteilung hätte ihm bestimmt gutgetan. Wenn er eine Strafe erhalten hätte, dann hätte er vielleicht damit abschließen können. Stattdessen hat er sich sein Leben lang selbst bestraft.“
In der Fachliteratur steht: „Die Tötungsaktionen der 1. Kompanie im Raum Winnyzja 1941 und Lithin 1942 blieben für die Beteiligten folgenlos.“
Verwendete Literatur: „Nicht ermittelt“ – Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Von Stefan Klemp