Der russischstämmige Journalist und Autor Andrey Gurkov über den Hass seines Heimatlandes auf den Westen, das Schimpfwort „Gayropa“ und Sanktionen.
Kölner Russland-Experte„Trump wird Putin nicht von seinem Wahn abbringen“

US-Präsident Donald Trump (l.) im Oval Office des Weißen Hauses im April 2025 und der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml, als er an einer Sitzung des Sicherheitsrates per Videokonferenz im März 2025 teilnimmt.
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In Istanbul soll am Montag weiter zwischen der Ukraine und Russland verhandelt werden. Sie als russischstämmiger Journalist schreiben seit vielen Jahrzehnten über Ihr Heimatland und die politische Lage. Was meinen Sie: Kann man mit Wladimir Putin verhandeln?
Gerade in Deutschland erlebe ich diesen Wunsch als sehr stark ausgeprägt. Aber wir sehen gerade, dass der stärkste Mann der Welt, der Präsident der USA, mit seinem diplomatischen Apparat und vielen weiteren internationalen Vermittlern nichts bewirken kann. Wir haben jetzt also den schmerzhaften Beweis, schmerzhaft auch für Donald Trump, dass ein zielführender Dialog gegenwärtig nicht möglich ist. Ich erwarte eine Abkühlung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington. Ich habe die Flitterwochen zwischen Putin und Trump ohnehin nie als nachhaltig eingeschätzt. Der Hass auf Amerika ist zu stark. Wobei es ja eine Hassliebe ist.
Inwiefern?
Man will so sein wie Amerika – und Amerika stört dabei, so zu sein wie Amerika. Dieser Hass sitzt tief in der russischen Bevölkerung, Mentalität und Elite.
Wie blickt Wladimir Putin auf Donald Trump?
Ich vermute mal, dass eine Art verächtliche Hoffnung besteht: Den Alten kriegen wir schon rum, wir müssen ihm nur viel schmeicheln. Es gibt eine große Schmeicheltradition in Russland. Aber wie der Titel meines Buchs sagt: Für Russland ist Europa – und der Westen insgesamt – der Feind. Ziel ist, die Amerikaner aus Europa rauszudrängen und dann die Kontrolle über Europa, vor allem über Osteuropa zu haben. Kontrolle, aber keine Eroberung: Russische Panzer am Rhein sehe ich nicht.

US-Präsident Donald Trump spricht im Regen zu Reportern. (Archivbild)
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Wie bewerten Sie das Schauspiel zwischen Wladimir Putin und Donald Trump?
Es ist ein extrem trauriges Schauspiel, weil die ehemalige Führungsmacht des Westens sich dermaßen fehlleiten lässt von ihrem sehr eitlen und nicht sehr kenntnisreichen Präsidenten. In Washington gibt es genügend Experten, die ihm erklärt haben könnten, dass seine Vorstellungen eines schnellen Friedensschlusses naiv und illusorisch sind. Trump verspürt eine Faszination für das autoritäre Gebaren Putins. Er scheint dieses Imperiale ja auch auf Amerika übertragen zu wollen. Und er dachte wohl, er würde unter Gleichgesinnten schnell eine Lösung finden. Er hat die Motive Putins und auch die Motive dieses Krieges, der Russlands und nicht nur Putins Krieg ist, nicht verstanden. Er wird Putin nicht von seinem Bestreben oder Wahn abbringen.
Hat Putin nicht zumindest Respekt vor Trumps Unberechenbarkeit?
Das dürfte den Kreml schon etwas nervös machen. Einer von Putins Trümpfen war ja, ständig mit seiner Unberechenbarkeit zu spielen, während die aus Moskau-Sicht biederen Europäer auf Verlässlichkeit und Gesetzestreue setzten. Jetzt ist Trump sogar noch unberechenbarer als Putin. Allerdings habe ich gerade nicht den Eindruck, dass im Kreml die Angst übertrieben groß ist.
Sie können das Gespräch als deutlich längere Fassung als Podcast hier im Player oder auf allen gängigen Podcast-Plattformen hören.
Am vergangenen Wochenende gab es einen großen Gefangenenaustausch, gleichzeitig schwere Luftangriffe auf die Ukraine. Was will Putin damit signalisieren?
Er ist nicht gewillt, die Frontlinie jetzt einzufrieren. Er will mehr. Putin hat schon im Herbst 2022 vier ukrainische Gebiete, obwohl in zwei Gebieten er noch nicht einmal deren Hauptstädte eingenommen hatte, als russisches Territorium in die Verfassung aufgenommen. Die Verfassung will er keinesfalls wieder ändern. Die Botschaft ist: Wenn ihr Ukrainer jetzt nicht nachgebt, holen wir uns weitere Gebiete. Derzeit scheint eine Sommeroffensive zu beginnen im Norden der Ukraine. Putin will seine Drohung also wahrmachen.
Was ist dran an dem Argument, dass sich Russland durch die Nato-Osterweiterung bedrängt gefühlt und legitime Sicherheitsbedenken gehabt hat?
Das ist ein Lieblingsargument der russischen Propaganda und das Argument, das am meisten bei der deutschen Bevölkerung verfängt. Ein größerer Teil der Deutschen ist mit der Vorstellung aufgewachsen, die NATO sei die größte Bedrohung für den Weltfrieden. Da verfängt das. Als die Ost-Erweiterung 1999 und 2004 durchgezogen wurde, hat das Putin übrigens nicht daran gehindert, die Nord Stream 1 zu planen und eine große Annäherung zu verkünden. Erst als die russische Armee stärker wurde, begann man plötzlich von einer Bedrohung zu sprechen.
Wie wirksam sind die verhängten Sanktionen gegen Russland?
Putin drängt in den Verhandlungen und Telefongesprächen mit Trump und anderen darauf, die Sanktionen zu lockern oder abzuschaffen. Das heißt: Sie wirken. Die russische Autoproduktion oder die Kohleindustrie liegen am Boden. Das Abgeschnittensein vom internationalen Bankensystem ist ein riesiges Problem. Wir sehen aus der Geschichte der Sanktionen gegen Kuba, Iran oder Nordkorea, dass Sanktionen nicht immer einen Regime-Change bringen. Sie bringen auch Putin, der nicht nur Menschenleben, sondern auch wirtschaftliche Interessen opfert, nicht von seiner imperialen Idee ab. Aber eine weitere Verschärfung der Sanktionen durch die USA könnte für Putin schon schwierig werden.
Welche Sanktion würde richtig wehtun?
Ein Verbot, russisches Öl zu kaufen. Man könnte mit Sanktionen gegen alle Länder drohen, die russisches Öl importieren. Kleinere Staaten würden da sicher nachgeben. China einzuschüchtern, ist allerdings nicht so leicht.
Was ist mit den eingefrorenen Geldern russische Oligarchen und der russischen Regierung?
Bei den Geldern von Oligarchen handelt es sich um keine sehr großen Summen. Das ist ganz anders bei den Geldern der russischen Regierung, der Zentralbank, die als Reserven in Euro in Europa angelegt sind. Ich verstehe sehr wohl die Bedenken der Europäer, die Sorge haben, was sie für ein Signal an andere Länder aussenden, wenn Gelder eingefroren werden, sobald es ein Problem mit einem Regime gibt. Noch schwerwiegender wäre eine Beschlagnahme der eingefrorenen staatlichen Gelder. Es gibt sehr viele Staaten, die sich nicht an europäische Standards halten, was Menschenrechte, Politik, Demokratie angeht. Die würden sich alle fragen, ob sie ihr Geld wirklich in Europa anlegen sollen. Solche Zweifel würden das weltweite Vertrauen in die europäische Währung untergraben.
Können kapitalistische Argumente allein ausschlaggebend sein?
Ich verstehe kapitalistisch nicht als Schimpfwort. Das gibt uns unseren Wohlstand. Und neben der Marktwirtschaft gibt es auch den Rechtsstaat: Wenn jemand Geld anlegen will, braucht er bestimmte rechtsstaatliche Garantien. Die sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Europa darf sich nicht schaden.
Es heißt öfter, in einigen Jahren könnte Russland bereit sein, auch Nato-Staaten anzugreifen. Für wie realistisch halten Sie das?
Wer sich wie ich das Unvergnügen leistet, Propaganda in russischen Talkshows im staatlichen Fernsehen zu verfolgen, wird ständig davon hören, dass man Berlin niederbrennen oder eine Atombombe auf London werfen soll. Wir sehen allerdings auch, dass die russische Armee beispielsweise Monate brauchte, um die ukrainische Kleinstadt Bachmut einzunehmen. Russland ist durch den unerwartet langen Krieg in der Ukraine geschwächt. Ich würde aber nicht ausschließen, dass Moskau, sagen wir, 2028 während der Präsidentschaftswahlen in Amerika eine Provokation begehen würde und die östlichste estnische Stadt Narva besetzt – um zu testen, wie es mit dem fünften Artikel des NATO-Vertrages aussieht. Wird die NATO zurückschlagen? Oder wird sie sagen: Wir wollen keinen Atomkrieg wagen, Narva könnt ihr haben. Das wäre das Ende der Glaubwürdigkeit der NATO.
Ist also die einzig richtige Strategie, dass Europa jetzt aufrüstet, um Russland Angst zu machen?
Mir gefällt das Wort aufrüsten nicht. Es gibt in Deutschland einen sehr schönen Ausdruck: die wehrhafte Demokratie. Wenn wir von Wehrhaftigkeit und Eindämmung sprechen statt Aufrüstung und Abschreckung, würde ich sagen: Ja, das ist der Weg, den Frieden zu gewährleisten.

Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew droht regelmäßig mit Atomschlägen gegen den Westen. (Archivbild)
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Warum ist Europa für Russland zum Feindbild geworden?
Im Moskau der 80er Jahre habe ich eine ganze andere Einstellung zu Europa erlebt. Die Moskauer Intelligenzija, das Bildungsbürgertum, wollte endlich das kommunistische Experiment beenden und unterstützte eine Entwicklung Richtung Europa. Der damals populäre Ausdruck war „Renovierung der Wohnung nach europäischen Standards“. Leider überwog die materielle Vorstellung von Europa, während die Werte Europas für die Leute uninteressant waren, wie jetzt klar wird. In der russischen, sowjetisch geprägten Bevölkerung war das Anti-Westliche sehr stark verankert. Wir sehen ja jetzt in Ostdeutschland, dass das Anti-Westliche nach 40 Jahren DDR in vielen verblüffend tief sitzt.
Welche Narrative sind im heutigen Russland besonders wirkmächtig?
Der Sowjetmensch, ich bin ja auch einer, wurde dazu erzogen, dass wir die Speerspitze der menschlichen Entwicklung sind. Als das kommunistische System glanz- und klanglos zusammenbrach, hat man relativ schnell Ersatz gefunden: den orthodoxen Glauben. Es gibt seit Jahrhunderten das Konzept von Moskau als dem Dritten Rom: Wenn Moskau fällt, also die russische Orthodoxie fällt, dann ist das auch das Ende der christlichen Welt. Dieses theologische Konzept wird jetzt politisch instrumentalisiert, um zu zeigen: Eigentlich sind wir die wahren Christen, die Europäer haben das Christentum längst aufgegeben. In den sozialen Netzwerken liest man jetzt ständig von „Gayropa“, das schwule Europa, das moralisch verfallen ist. Das kommt bei der russischen Bevölkerung gut an.
Welche Rolle spielt – neben den Bloggern – das Bildungssystem bei der Propaganda?
Sehr gefährlich sind die neuen Geschichtsbücher, die den Krieg in der Ukraine glorifizieren und die Kreml-Sicht auf den Krieg verbreiten. Man will vom Kindergarten ab eine Generation erziehen, die diesem antiwestlichen, imperialen Narrativ folgt. Wenn das glücken sollte, wird Europa noch lange einen sehr schwierigen Nachbarn im Osten haben.
Wer oder was könnte Putin entmachten?
Wenn es einen Putsch gäbe, käme er von der extremen Kriegspartei. Also von denen, die sagen: Putin, du bist ein Schwächling, du hast den Krieg immer noch nicht gewonnen, jetzt lass uns mal ran. Das sind die Hardliner.
Also sollten wir uns keine Hoffnung machen, dass Russland sich nach einem Ende Putins ändern könnte?
Die Deutschen haben Jahrzehnte gebraucht, die NS-Diktatur aufzuarbeiten. Wir haben eine Putin-Propaganda, die seit 25 Jahren auf einem ziemlich fruchtbaren Boden aufgebaut wird. Warum sollten wir davon ausgehen, dass ein Mann im Kreml ausgewechselt wird und auf einmal alle sagen: Das mit Gayropa war etwas übertrieben, das mit der Ukraine haben wir auch falsch gemacht Das ist eine totale Illusion! Die positivste Variante, die ich mir vorstellen kann, ist die einer hoffentlich halbwegs friedlichen Koexistenz.

Der russische Präsident Wladimir Putin.
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Was kann Deutschland noch tun – neben Wehrhaftigkeit?
Berlin ist jetzt ein Hotspot für die russischen Intellektuellen, die nach Deutschland geflohen sind: Sie zu unterstützen ist nicht besonders kostspielig. Sie werden eine Bereicherung für das intellektuelle und wissenschaftliche Leben sein. Und man würde Russland einen Gefallen tun, wenn man deren imperialistisches Streben dämpfen würde. Das Land, das das am besten tun kann, ist die Ukraine.
Wie meinen Sie das?
Wenn Russland in der Ukraine einen Sieg erringt, wird es das Gefühl haben: Wir sind das ultimative Siegervolk. Diese Vorstellung muss gebrochen werden. Die russische Bevölkerung muss das Signal bekommen: Beschäftigt euch endlich mit euch selbst und lasst die anderen leben, wie sie leben wollen. Ihr habt zig Aufgaben. Ihr habt ein großes Land, da muss sehr viel gemacht werden. Hört auf, zu versuchen, andere einzuverleiben. Wenn ich Deutschland einen Rat geben darf: Konzentriert euch jetzt auf die Ukraine. Ein paralleler Annäherungsprozess mit Russland? Das wird nicht funktionieren.
Haben Sie mit Ihrer Kritik an der russischen Regierung keine Sorge, selbst zur Zielscheibe zu werden?
Ich will nicht in Größenwahn verfallen und denken, dass sich jetzt im Kreml alle an mir rächen wollen. Aber natürlich sind prominente russische Intellektuelle, vor allem Oppositionspolitiker, schon zur Zielscheibe geworden. Größer noch ist die Gefahr von Troll-Kampagnen – aber damit kann man leben. Allerdings würde ich derzeit nicht nach Russland zu reisen. Zuletzt war ich im Dezember 2021 dort.
Erleben Sie Feindseligkeit in Deutschland, weil Sie mit dem Aggressor identifiziert werden?
Definitiv nicht. Weder von deutschen Mitbürgern noch von Ukrainern. Meine Familie hat viel Kontakt mit Ukrainern. Sollte mir jedoch einer von ihnen irgendwann mal den Handschlag verwehren, würde ich das mit Demut akzeptieren, weil ich die Motive verstehen würde.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Mit Blick auf Russland versuche ich realistisch zu bleiben. Aber ich blicke voller Optimismus auf Europa. Der russische Angriffskrieg ist eine große Herausforderung, weil auch destruktive Kräfte in Deutschland und Europa stärker werden. Ich bin aber überzeugt, dass das europäische Projekt, die EU, diese schwierigen Zeiten überleben und gestärkt daraus hervorgehen wird.

Andrey Gurkov
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Zur Person
Der gebürtige Moskauer Andrey Gurkov ist Journalist und Autor und gilt als einer der besten Kenner Russlands in Deutschland. Von 1993 bis 2025 arbeitete er für die Russische Redaktion der Deutschen Welle. Gerade hat er das Buch „Für Russland ist Europa der Feind. Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat“ beim Kölner Kiwi Verlag veröffentlicht.