Wichtig ist, sich nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Gründe für das Stimmverhalten vor Augen zu führen.
KommentarDie Erdogan-Wähler in Deutschland sind keine Gefahr für unsere Demokratie
Die türkischen Wähler in Deutschland haben abgestimmt, schon vor der Auszählung steht der Sieger fest: Präsident Recep Tayyip Erdogan kam in der ersten Wahlrunde hierzulande auf mehr als 65 Prozent der abgegebenen Stimmen, dass er auch bei der Stichwahl weit vor Kemal Kilicdaroglu liegen wird, ist ausgemachte Sache. Die Interpretation, dass fast zwei Drittel der türkischstämmigen Menschen in Deutschland Erdogan-Anhänger sind, ist dennoch falsch.
Rund drei Millionen Menschen haben Wurzeln in der Türkei, von ihnen war etwa die Hälfte wahlberechtigt. Von diesem Recht hat in der ersten Runde nicht einmal jeder Zweite Gebrauch gemacht. Bei den verbliebenen Wahlberechtigten darf angenommen werden, dass sich viele davon nicht mehr für die Politik in der Türkei interessieren, weil sie Deutschland längst als einzige Heimat empfinden.
Nicht einmal jeder dritte Wahlberechtigte in Deutschland hat Erdogan gewählt
Erdogan kam im ersten Wahlgang auf knapp 475.600 Stimmen – nicht einmal jeder dritte Wahlberechtigte hat ihn gewählt. Hochgerechnet auf die mehr als 83 Millionen Einwohner Deutschlands macht das etwas mehr als ein halbes Prozent aus. Das ist kein Wert, der eine Demokratie wie die unsere in ihren Grundfesten erschüttern würde.
Natürlich darf man dennoch kritisieren, dass Menschen, die die Vorzüge der Demokratie in Deutschland genießen, in der weit entfernten Türkei für einen Autokraten stimmen. Zugleich ist aber wichtig, sich die Ursachen für ihr Wahlverhalten vor Augen zu führen.
Natürlich gibt es Türken, die sich nicht integrieren wollen. Integration scheitert aber längst nicht nur an unwilligen Ausländern, sondern auch an der deutschen Mehrheitsgesellschaft, von der Türken lange Zeit wie Bürger zweiter Klasse behandelt wurden. Dass Erdogan unter ihnen diesen Rückhalt genießt, ist auch Folge einer über Jahrzehnte hinweg verfehlten Integrationspolitik.