- Es ist falsch, jetzt von der „Stunde der Exekutive“ zu sprechen.
- Eine solche Stunde der Exekutive, die Monate dauert, wird zu einer Gefahr für die Rechte der Bürger.
- Was wir stattdessen fordern müssen, ist die Stunde der Parlamente. Ein Gastbeitrag.
Düsseldorf – Zur Eindämmung des Coronavirus werden gegenwärtig Grundrechte gegenüber jedermann in bisher nicht vorstellbarer Weise eingeschränkt. Die vollziehende Gewalt – von den Ministerpräsidenten bis hinunter zu Landräten, Bürgermeistern und Polizisten – handelt dabei ohne ausreichende Ermächtigungsgrundlage. Diese ergibt sich nämlich nicht aus dem geltenden Infektionsschutzgesetz.
Dessen Bestimmungen zur Einschränkung von Grundrechten und bürgerlichen Freiheiten bezieht sich ausschließlich auf einzelne Kranke oder Krankheitsverdächtige, nicht auf die gesamte Bevölkerung. Außerdem nennt Paragraf 28 nicht alle Grundrechte, die derzeit eingeschränkt werden, etwa das Recht zur ungestörten Religionsausübung oder die Berufsfreiheit, obwohl das Grundgesetz anordnet, dass das einschränkende Gesetz dies ausdrücklich tun muss.
Gastbeitrag von...
Stefan Hertwig ist Honorarprofessor für öffentliches Recht an der Universität Düsseldorf und Partner der Anwaltskanzlei CBH mit Spezialisierung auf öffentliches Wirtschaftsrecht.
Aber – so kann man hören – was sollen solche „formaljuristischen“ Einwände in der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg, in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, die nur noch „mit der Bazooka“ zu bekämpfen sei?
Die Wortwahl der vollziehenden Gewalt strotzt vor Superlativen, die Angst machen und die Angst machen sollen, um das Wohlverhalten der Bevölkerung zu gewährleisten. Doch Angst ist kein guter Ratgeber, und monokausale Erklärungen der Welt sind die Narrative von Diktatoren.
Nebenwirkungen nicht aus dem Blick verlieren
Tatsächlich haben wir es mit einem sehr vielschichtigen Problem zu tun. Die Ausbreitung des Virus wird erst zur Ruhe kommen, wenn ein ausreichender Teil der Bevölkerung infiziert ist („Herdenimmunität“). Um diese Infektionsrate zu steuern, gibt es die verschiedensten Instrumente.
Man kann – wie gegenwärtig – Verbote mit der Gießkanne aussprechen, gegenüber jedermann und ohne sich um rechtsstaatliche Details wie Verhältnismäßigkeit oder auch nur deren genügende Bestimmtheit ausreichend zu sorgen. Man könnte aber auch differenzierter vorgehen: mit dem Schutz besonders gefährdeter Personen, mit flächendeckenden Testverfahren, mit Tracking-Apps, geschützten öffentlichen Räumen und vielem mehr.
Außerdem darf man – wie bei jeder Therapie – deren Nebenwirkungen nicht aus dem Blick verlieren. Derzeit werden Arbeitsplätze und selbstständige Existenzen vernichtet. Es ist eine Illusion zu glauben, dass staatliche Darlehen, die zurückgezahlt werden müssen, hieran etwas ändern werden. Kontaktverbote kennt man im Alltag nur aus dem Strafvollzug.
Sie heißen dort Einzelhaft, sind besonders begründungsbedürftig und gelten bei langer Dauer als eine Form der Folter. Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches Schaden nimmt, wenn es seinen Nächsten längere Zeit nicht nahe kommen darf. Man muss also mit psychischen Schäden, vermehrten Fällen von häuslicher Gewalt, erhöhtem Alkoholkonsum, Entwicklungsstörungen bei Kindern und Ähnlichen rechnen, wenn die derzeitigen Kontaktverbote andauern. Eine wirtschaftliche Depression und eine in Teilen traumatisierte Bevölkerung sind schließlich ein explosives Gemisch. Die Weltwirtschaftskrise 1929 läutete bekanntlich den Anfang vom Ende der Weimarer Republik ein.
Jetzt muss die Stunde der Parlamente gefordert werden
Es ist deshalb falsch, jetzt von der „Stunde der Exekutive“ zu sprechen. Eine solche Stunde der Exekutive, die Monate dauert, wird zu einer Gefahr für die Rechte der Bürger. Was wir stattdessen fordern müssen, ist die Stunde der Parlamente.
In einer repräsentativen Demokratie ist das Parlament der Ort, an dem die beschriebenen schwierigsten Abwägungsvorgänge diskutiert und entschieden werden müssen. Es lohnt sich, einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1972 zurate zu ziehen. Es ging um die Zuständigkeiten von Verwaltungsbehörden bei der Regelung des Facharztwesens.
Das Gericht sagte damals überraschend aktuelle Sätze: Die Exekutive sei eine Macht, von der die geschichtliche Erfahrung zeige, dass sie versucht sein könne, praktisch-effiziente Regelungen auf Kosten der Freiheit der Bürger durchzusetzen. Karlsruhe kommt in weiteren Urteilen zu dem Ergebnis, dass die wesentlichen Entscheidungen in unserer Demokratie vom Gesetzgeber getroffen werden müssen und nicht der Exekutive überlassen werden dürfen.
Gegenwärtig ist aber genau das Gegenteil der Fall. Der Bundestag hat Ende März die „epidemische Lage festgestellt“ und schweigt seither zu deren Bekämpfungsmaßnahmen. In NRW hat der Landtag immerhin das von der Regierung eingebrachte Epidemie-Gesetz im Hinblick auf eine Zwangsverpflichtung von medizinischem Personal entschärft. Schon dieses kleine Beispiel zeigt, wie wichtig die parlamentarische Debatte gegenüber einem bloßen Effizienzdenken der Exekutive ist. Leider ist der Landtag nicht darüber hinausgegangen und hat der Regierung nicht klargemacht, dass künftig alle wesentlichen Entscheidungen über Art, Umfang und Dauer der Bekämpfungsmaßnahmen von ihm getroffen werden müssen.
Die Radikalen beider Ränder stehen doch schon wieder in den Startlöchern, um das parlamentarische System als unfähig zu verunglimpfen. Deshalb muss es gerade jetzt seine Überlegenheit gegenüber diktatorischer Führung beweisen. Nach Anhörung aller in Betracht kommenden Fachleute werden die Parlamente bessere und differenziertere Maßnahmen beschließen als die Exekutive.
Der Bevölkerung ist klar, dass man das Virus nicht sich selbst überlassen darf. Es gibt aber ein starkes Bedürfnis nach ausführlicher und offener Diskussion über das Für und Wider sowie über die Dauer der einzelnen zu ergreifenden Maßnahmen. Podcasts, Zeitungsartikel und Bulletins des Robert-Koch-Instituts können die parlamentarische Debatte nicht ersetzen. Was wir jetzt wirklich brauchen, ist eine Sternstunde der Parlamente.