Kamala Harris sieht in Tim Walz einen Mann, der helfen kann, die tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft zu überwinden. Eine Analyse.
Tim WalzDer nette Lehrer aus Minnesota für ein besseres Amerika
Mit wem will sie in diesen schicksalhaften Wahlkampf ziehen? Wer soll im Weißen Haus ab Januar 2025 hinter ihr stehen, politisch jeden Tag und manchmal auch tatsächlich? Und wer könnte sie, falls sie stirbt oder amtsunfähig wird, sogar ersetzen? Kamala Harris hat sich nach einiger Bedenkzeit festgelegt: auf Tim Walz. Es war die wichtigste Entscheidung, seit Harris verkündet hat, als Präsidentschaftskandidatin anzutreten. Harris hat dabei, soweit man sehen kann, dabei alles richtig gemacht.
Tim Walz hat keine Angst vor Trumpisten
Walz, wie Harris Jahrgang 1964, ist erst spät in die Politik gegangen. 24 Jahre hat er bei der Nationalgarde verbracht, dann wurde er Lehrer, dann Kongressabgeordneter. Als er 2019 zum ersten Mal in sein heutiges Amt als Gouverneur von Minnesota gewählt wurde, war er schon 55 Jahre alt.
Die lange Zeit als Normalo prägt ihn bis heute. Walz sieht sich als Mann der pragmatischen Mitte. Radikalisierungen aller Art missfallen ihm, schon weil sie eine vernünftige, lagerübergreifende Zusammenarbeit schwerer machen. Er hält nichts von Leuten, die sich, wie ein zunehmender Teil der Republikaner, hohläugig in irgendwelche Theorien hineinschrauben, für Kompromisse schon nicht zur Verfügung stehen und am Ende nur noch Düsternis verbreiten.
Tim Walz über Trump und Vance: „Diese Typen sind einfach weird“
Jüngst steckte Walz in einem von Küste zu Küste bejubelten Video nicht nur Trump in den Sack, sondern auch dessen Vizepräsidentschaftskandidaten J. D. Vance. Vor aller Augen prügelte er öffentlich auf beide gleichzeitig ein: „Diese Typen sind einfach weird.“
Vance allerdings macht es den Demokraten auch besonders leicht. Zum Beispiel hat er kinderlose Ehepaare für ihr „mangelndes Investment in Amerika“ kritisiert. Dass er sich zugleich aus religiösen Gründen gegen In-vitro-Fertilisation ausspricht, den einzigen Weg für ungewollt Kinderlose zur biologischen Elternschaft, lässt den Trump-Vize doppelt merkwürdig erscheinen.
Politisch passen Harris und Walz gut zusammen. Sie haben keine Angst vor Trumpisten. Beide gehen den Rechtspopulismus selbstbewusst an und zeigen sich gelassen, fast ein wenig herablassend: als Kampf gegen „seltsame“ Typen, denen man dringend mal die Grenzen aufzeigen muss.
Zusammenhalt, Bildung, Gerechtigkeit
Ein taktischer Nachteil liegt darin, dass Harris und Walz vom Herkommen her sehr unterschiedlich sind. Sie war Staatsanwältin in der Großstadt, er war Lehrer in der Provinz. Sie wurde Senatorin in Washington und blickte erstmals auch auf die unendlichen Weiten der Weltpolitik. Er trommelte in Minnesota das nötige Geld zusammen, um für alle Schülerinnen und Schüler ein kostenloses gemeinsames Essen in der Schule zu organisieren. Dieses Zusammenrücken, sagen Fachleute inzwischen, habe sich auf den Alltag der Kinder und Jugendlichen in Minnesota segensreich ausgewirkt.
Wenn der gelernte Lehrer Walz auf Jugendliche zutritt, hat er immer etwas Funkelndes und Neugieriges in den Augen, als wolle er sie gleich im nächsten Schritt bereit machen für ein paar Übungen, etwa um sie auf ein Turnier vorzubereiten. Diese Ausstrahlung beeindruckt Harris zutiefst.
Harris gab allen Empfindungen, die mit der „chemistry“ zwischen ihr und Walz zu tun haben, großes Gewicht. Das darf sie auch als mögliche künftige Präsidentin. Die zentrale Bedeutung der Loyalität des Vizes im Weißen Haus kennt Harris aus eigener Anschauung.
Doch die Hinwendung zu dem netten Lehrer aus Minnesota hat auch eine inhaltliche Dimension. Sie ist ein Hinweis darauf, wie die mögliche künftige Präsidentin sich den Weg ihrer Nation durchs 21. Jahrhundert vorstellt. Sozialer Zusammenhalt plus Bildung plus Gerechtigkeit: Walz hat es in seinem Staat hinbekommen, klassische, fast schon überkommen geglaubte Wertvorstellungen der US‑Demokraten wieder auferstehen und sogar auf neue Art modern erscheinen zu lassen. Harris scheint sich dies für ganz Amerika vorgenommen zu haben.