Der türkische Präsident kann das Debakel nicht auf schwache Kandidaten schieben oder unfähige Parteistrategen verantwortlich machen.
Kommentar zur Türkei-WahlJetzt vom Ende Erdogans zu sprechen, wäre verfrüht
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat hoch gepokert – und verloren. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Staatsspitze erlitt er an den Wahlurnen eine klare Niederlage. Seine islamisch-konservative AKP landete bei den Kommunalwahlen vom Sonntag auf dem zweiten Platz. Erdogan kann das Debakel nicht auf schwache Kandidaten schieben. Er kann auch nicht unfähige Parteistrategen verantwortlich machen.
Dazu hat er sich selbst viel zu stark in den Wahlkampf eingebracht. Fast täglich absolvierte er in den Wochen vor dem Urnengang Kundgebungen. Er machte damit die Kommunalwahl zu einer Abstimmung über das System Erdogan. Allein in Istanbul, seiner Heimatstadt, trat Erdogan sechs Mal auf. Hätte die AKP dort gewonnen, es wäre Erdogans Sieg gewesen. Jetzt ist es seine Niederlage.
Die Gründe liegen nicht nur in der Wirtschaftskrise, die Erdogan mit seiner jahrelangen Politik des billigen Geldes selbst herbeigeführt hat. Immer mehr junge Menschen in den Städten lehnen sich auf gegen die Gängelung und die schleichende Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Noch nie haben so viele Türkinnen und Türken in der EU um Asyl nachgesucht wie jetzt. Fast zwei Drittel aller türkischen Jugendlichen im Alter von 18 bis 25 möchten am liebsten auswandern, so eine Untersuchung vom vergangenen Jahr. Erdogan kündigt nun „Selbstkritik“ an.
Er ist schon oft politisch totgesagt worden, hat aber bisher alle Rückschläge weggesteckt, von den landesweiten Massenprotesten im Frühjahr 2013 über die wenig später aufgekommenen Korruptionsvorwürfe bis zum Putschversuch im Sommer 2016. Jetzt vom Ende Erdogans zu sprechen, wäre deshalb verfrüht. Abzuwarten bleibt, welche Konsequenzen Erdogan aus der Niederlage zieht. Er ist keiner, der leicht aufgibt. Dass er sich nun auf die Werte der Demokratie und des Rechtsstaats besinnt, ist kaum anzunehmen.
Wahrscheinlicher ist, dass er nun seine Pläne für eine Verfassungsreform vorantreibt, mit der er sich noch mehr Macht und die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit als Präsident verschaffen könnte. Der Druck auf die Opposition, Regierungskritiker und Bürgerrechtler dürfte wachsen. Der siegreiche Istanbuler Oberbürgermeister Imamoglu hat sich zwar als ernsthafter Konkurrent für Erdogan erwiesen.
Er ist nun ein möglicher Anwärter auf die Präsidentschaft, sieht sich aber mit einem Strafverfahren konfrontiert, das zu einem Politikverbot führen könnte. Und Erdogans Amtszeit läuft noch bis 2028 – vier Jahre, in denen viel passieren kann.