Gerade haben die Schüler in NRW ihre letzte schriftliche Abiturprüfung hinter sich gebracht. Und wenn es gut läuft, halten sie spätestens im Juli ihr Zeugnis in der Hand. Aber ist das überhaupt noch etwas wert, in einem Land, in dem immer mehr Schüler mit immer besseren Noten das Abitur machen?
Was früher einer kleinen Elite vorbehalten war, ist längst Massenware: 53,8 Prozent der Schulabgänger in NRW haben 2015 ihr (Fach-)Abitur gemacht. In Bundesländern wie Hamburg oder dem Saarland waren es sogar mehr als 60 Prozent. Darunter immer mehr mit einer Eins vor dem Komma.
Entwertung des Abiturs
„Es ist eine dramatische Entwertung des Abiturs“, klagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands und langjähriger Schulleiter eines Gymnasiums. Masse und Klasse – das schließt sich aus, findet er: „Man kann nicht einfach beliebig die Quote steigern und so tun, als würde die Qualität erhalten bleiben.“ Und dann sei ja auch noch die Schulzeit an Gymnasien verkürzt worden: „Wir dürfen uns nichts vormachen – die Abiturienten nach acht Jahren können weniger. Sie haben schließlich unter dem Strich 1000 bis 1200 Unterrichtsstunden weniger gehabt.“
Wenn das so weitergeht, fürchtet Josef Kraus, wird den Unis das Abitur nicht mehr als Zugangsvoraussetzung reichen. „Das wäre natürlich ein Enthauptungsschlag für das Gymnasium und alle abiturvorbereitenden Schulformen.“
Hochschullehrer kritisieren mangelnde Kenntnisse der Abiturienten
Immer mehr Universitäten bieten für Studienanfänger Vor- oder Brückenkurse an – mit dem Ziel, „ihr Wissen auf den im Studium benötigten Stand zu bringen“, wie es auf der Webseite der Kölner Universität heißt. Das scheint dringend nötig zu sein: Erst Mitte März veröffentlichten mehr als 130 Professoren und Lehrkräfte einen Brandbrief, in dem sie die mangelnde Qualität des Mathematikunterrichts kritisieren. Ähnliche Klagen hört man immer wieder über verheerende Rechtschreib-Kenntnisse und peinliche Lücken im Allgemeinwissen der Abiturienten.
Stefan Herzig kennt diese Beschwerden – auch von seinen Kollegen. Der Prorektor für Lehre und Studium an der Kölner Universität weiß, dass Hochschullehrer oft ziemlich enttäuscht sind von dem, was die Erstsemester an Wissen aus den Schulen mitbringen. Und das zu Recht: „In den Bereichen Sprach- und Textverständnis sowie mathematischem Grundverständnis können wir an der Universität nicht bei Null anfangen. Da müssen wir Abiturwissen voraussetzen – aber finden es in großen Teilen nicht vor.“
„Es gibt immer noch genug fitte Abiturienten“
Trotzdem will sich Herzig nicht in den Chor derjenigen einreihen, die den Verfall des deutschen Bildungssystems bejammern: „Es hat noch keine Generation älterer Menschen gegeben, die nicht gesagt hätte, dass früher alles besser war. Das hat es schon immer gegeben – auch in Bezug auf das Bildungssystem“.
Auch Dirk Pfenning sagt, es gebe immer noch genügend fitte Abiturienten, die sich beim Bayer-Konzern bewerben. Der promovierte Chemiker ist dort seit vielen Jahren im Personalbereich tätig. Dank der standardisierten Einstellungstests hat er einen guten Überblick, was sich bei den Bewerbern verändert: „Die Kommasetzung, die Rechtschreibung und die Grammatik allgemein – das hat schon arg gelitten.“ In einem Industrieunternehmen mit hauptsächlich naturwissenschaftlichen Berufen sei das aber kein großes Thema. Und bei der Mathematik sieht Pfenning keine dramatischen Veränderungen: „Man kann nicht sagen, hier liefern die Schulen schlechtere Schüler ab. Das gilt wohlgemerkt nur für die Bewerber, die wir tatsächlich einstellen.“
Abiturienten in Kursen für Hauptschüler
Dennoch sieht Dirk Pfenning den Trend zum Abitur kritisch. Auch weil er beobachtet, dass der Abschluss längst keine steile Berufslaufbahn mehr garantiert. So gibt es seit fast 30 Jahren bei Bayer ein Starthilfe-Programm für Schulabgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden. „Und dort treffen wir heute tatsächlich auf Abiturienten. In einem Programm, das früher einmal ursprünglich für die Hauptschüler konzipiert war!“
Schwache Abiturienten sind die neuen Hauptschüler – das klingt dramatisch. Und natürlich ist der Abschluss nichts Besonderes mehr, wenn jeder Zweite ihn hat. Die Schüler in NRW haben trotzdem nicht umsonst über ihren Prüfungen geschwitzt: Abitur und Studium sind immer noch eine gute Versicherung gegen Arbeitslosigkeit.
Zahlen und Fakten zum Abitur
Noch vor 15 Jahren machten 38,2 Prozent aller Schüler das (Fach-)Abitur. 2014 waren es schon mehr als die Hälfte eines Jahrgangs (52,2 Prozent). Beispielaufgaben für die Abiprüfungen in NRW finden sich auf der Webseite des Schulministeriums über „Themen im Bildungsportal“. Stichworte: „Schulsystem“/„Standardsicherung“. Immer mehr Schulen in NRW bieten den direkten Weg zum Abitur an. 2005/06 waren es 46,7 Prozent, 2014/15 schon 58,1 Prozent.
Die Bedingungen für Abiturienten unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland erheblich
Ein NRW-Abitur – in manchen Bundesländern gilt das quasi als Schimpfwort. Den Schulen in Bielefeld oder Bonn wird unterstellt, dass hier gute Abi-Noten ohne große Anstrengung zu haben sind. Aber haben es die Bayern, die sich gerne ihres Qualitätsabiturs rühmen, tatsächlich so viel schwerer?
23 Prozent der Abiturienten in NRW machten ein Einserabi
Zumindest ist man hierzulande nicht besonders großzügig mit Einsernoten – 23 Prozent der Schüler in NRW machten 2015 ein Einserabi. In Thüringen freuten sich 38,7 Prozent über eine solche Spitzennote. Pure Willkür, oder ein Beweis dafür, dass die Schüler in NRW so schwache Leistungen abliefern? Diesen Vorwurf müssten sich dann allerdings auch die Niedersachsen gefallen lassen, die 2015 mit 2,59 den schlechtesten Abi-Schnitt vergaben (NRW: 2,47, Thüringen: 2,16). Sind die Niedersachsen also besonders blöd, oder nur besonders streng?
Vergleich nicht nur anhand von Noten
Die bundesweite Vergleichbarkeit des Abiturs ist ein Dauerstreit-Thema, dem selbst mit Daten, Fakten und Zahlen nur schwer beizukommen ist. Etwas hilfreicher als der Blick auf die Notenvergabe ist der Vergleich der Prüfungsbedingungen – obwohl es hier im Detail auch mindestens genauso viele unterschiedliche Regelungen gibt wie Bundesländer. Mitunter sind beispielsweise nur Mathe und Deutsch verpflichtend, in anderen kommt noch eine Fremdsprache dazu – teilweise dürfen die Schüler dann aber auch Mathe oder Deutsch abwählen.
Außerdem werden zwar überall in Deutschland besonders schlechte Kursnoten nicht in die Abiturnote mit eingerechnet. Die Zahl der Kurse, die in die Note mit einfließen müssen, schwankt von Bundesland zu Bundesland jedoch erheblich.
Bei den Prüfungsbedingungen gehört Nordrhein-Westfalen insgesamt zu den eher lockeren Ländern – steht damit aber nicht alleine da. Grob gilt die Regel: Je südlicher und östlicher in Deutschland, desto ungemütlicher wird es für die Abiturienten.
Zentraler Aufgabenpool für mehr Vergleichbarkeit
Fair sind die Voraussetzungen für Abiturienten in Deutschland also definitiv nicht. Ein zentraler Aufgabenpool der Länder soll in diesem Jahr erstmals für mehr Vergleichbarkeit sorgen. Die Kultusministerkonferenz hat gemeinsame Aufgaben für die Fächer Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch erarbeitet. Viel zu wenig, sagen Kritiker – unterm Strich seien die Aufgaben aus dem zentralen Pool nur für ein paar Prozent der Abiturnote ausschlaggebend.
Viele fordern daher ein bundesweit einheitliches Zentralabitur, um die Chancen für Abiturienten gerechter zu machen – egal ob sie aus Nordrhein-Westfalen oder Sachsen kommen. Die Kultusministerkonferenz erteilt diesem Wunsch eine klare Absage. Ein Zentralabitur käme in den Augen der zuständigen Landesminister einer „Verengung des Bildungsbegriffs“ gleich.