Die Ampelkoalition verspricht durch das neue Bürgergeld einen Kulturwandel. Langzeitarbeitslose sollen besser qualifiziert und dann in gute Jobs vermittelt werden. Allerdings birgt das System viele Schwierigkeiten, die auch ein Bürgergeld nicht lösen kann.
Änderung zum 1. JanuarDas Bürgergeld kommt, die Nöte bleiben
Bundestag und Bundesrat werden an diesem Freitag endgültig grünes Licht für das neue Bürgergeld geben. Es wird das bisherige Hartz-IV-System ablösen. Die Regelsätze werden zum 1. Januar 2023 steigen - für einen Single um rund 50 Euro von 449 auf 502 Euro pro Monat. Die Vermittlung in den Arbeitsmarkt soll künftig besser laufen, mehr Wert auf Aus- und Weiterbildung der Betroffenen gelegt werden. Wer Bürgergeld bezieht, soll besser dastehen. Der Praxistest beginnt ab dem kommenden Jahr. Wegen der zahlreichen Änderungen auch für die Vermittlung von Arbeit und die aktuell bereits hohen Auslastung der Jobcenter sollen die Neuregelungen zur Integration in den Arbeitsmarkt erst zum 1. Juli 2023 in Kraft treten.
Was sich konkret ändert
Wer sich trotz Bürgergeld einen kleinen Job sucht, darf davon 30 Prozent behalten, wenn der zwischen 520 und 1000 Euro monatlich liegt. Bislang sind es 20 Prozent. Für Menschen unter 25 gilt zwischen Schulabschluss und Ausbildungsbeginn für drei Monate jeweils ein Freibetrag von 520 Euro - ebenso wie beim Bundesfreiwilligendienst. Großzügigere Regelungen gibt es auch beim sogenannten Schonvermögen - bis zu 40.000 Euro darf man behalten, für jedes weitere Haushaltsmitglied erhöht sich die Summe um weitere 15.000 Euro. Ein vierköpfige Familie kann also bis zu 85.000 Euro auf dem Konto liegen haben, wenn sie Bürgergeld bekommt. Das gilt für ein Jahr - danach muss erst das Vermögen eingesetzt werden, bevor weiter Bürgergeld gezahlt wird. Ebenfalls für die Dauer eines Jahres können Bürgergeldempfänger in ihren bisherigen Wohnungen bleiben, auch wenn die Kosten dafür den in der Grundsicherung vorgesehenen Rahmen sprengen.
Was bleibt
Das Prinzip des Förderns und Forderns soll erhalten bleiben. Sanktionen können grundsätzlich weiterhin vom ersten Tag an verhängt werden. Wenn jemand eine zumutbare Stelle nicht antritt, können die Bürgergeldbezüge um zehn Prozent gekürzt werden, beim zweiten Mal sind 20 Prozent Kürzung möglich. Die höchste Sanktion bleibt eine Kürzung um 30 Prozent - mehr lässt übrigens auch das Bundesverfassungsgericht nicht zu.
Wie sich die Kultur der Sozialhilfe ändern soll
Das bisherige Hartz-IV-System ist darauf ausgerichtet, dass Menschen vor allem schnell in Erwerbsarbeit, auch in Aushilfsjobs, vermittelt werden. Dieser sogenannte Vermittlungsvorrang soll wegfallen. Künftig soll die Priorität darauf liegen, den Bürgergeld-Beziehenden eine langfristige Beschäftigungsmöglichkeit zu eröffnen. Die Ampelkoalition begründet den Kulturwandel damit, dass es in Deutschland anders als beim Start der Hartz-Reformen vor knapp 20 Jahren heute einen erheblichen Fachkräftemangel gibt. Die Langzeitarbeitslosen sollen künftig die Chance bekommen, eine Qualifizierung oder Umschulung individuell mit den Vermittlerinnen und Vermittlern in den Jobcentern zu besprechen. Das Ziel dieser Neuregelung ist es, den vielfach kritisierten Drehtüreffekt zu vermeiden, wonach die Langzeitarbeitslosen schnell in Jobs vermittelt werden, die Arbeit aber genauso schnell wieder los sind.
Das Verhältnis zwischen Jobcentern und Langzeitarbeitslosen soll künftig stärker auf Vertrauen und Miteinander bauen. Für Weiterbildung, die mit einem neuen Abschluss endet, sollen sogar 150 Euro extra gezahlt werden.
Zum Kulturwandel zählt auch die Namensänderung. Dass die Grundsicherung für Langzeitarbeitslose fast 20 Jahre unter dem Titel Hartz IV firmierte, war eine große Kommunikationspanne im Zuge der Arbeitsmarktreformen, die die damalige rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder umsetzte. Architekt der Reformen war Peter Hartz, damals Personalvorstand bei VW - später wurde er wegen Untreue verurteilt. Die römische Zahl 4 erhielt das Langzeitarbeitslosengeld, weil es die vierte von insgesamt vier Arbeitsmarktreformen war.
Welche Schwierigkeiten zu erwarten sind
Die Jobcenter arbeiten bereits heute vielfach am Limit, weil sich die Vermittlerinnen und Vermittler um eine hohen Zahl an Fällen kümmern müssen. Wenn die Kundschaft der Jobcenter künftig besser und individueller beraten werden soll, bedeutet das zusätzliche Arbeit. Zudem muss sich die Bundesagentur für Arbeit (BA) auch um die wachsende Zahl an Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine kümmern. Sie muss deren materielle Ansprüche erfüllen und darüber hinaus für Arbeitsmarktintegration sorgen, was wegen der hohen Zahl an jungen Müttern mit betreuungsbedürftigen Kindern eine besondere Herausforderung ist. Durch die geplante Wohngeldreform kommt weitere Zusatzarbeit auf die BA zu.
Wer aktuell Hartz IV bekommt
Derzeit beziehen circa 3,8 Millionen erwerbsfähige Erwachsene in Deutschland Arbeitslosengeld II. Rund 1,7 Millionen der erwerbsfähigen Bezieherinnen und Bezieher haben nach Stand vom Juni 2022 keinen deutschen Pass, wie die Arbeitsagentur auf RND-Anfrage erklärte. Seit Juni habe es einen starken Zuwachs von etwa 12 Prozent gegeben, hieß es. Grund dafür ist die von Bund und Ländern beschlossene Änderung, wonach Geflüchtete aus der Ukraine Grundsicherung bekommen statt Unterstützung über das Asylbewerberleistungsgesetz. Damit will die Bundesregierung den Menschen aus der Ukraine die Integration erleichtern, weil sie nun auf langwierige Asylverfahren verzichten und direkt Jobs annehmen können.
Vorläufigen Daten vom Oktober zufolge leben 604.000 ukrainische Staatsangehörige von Hartz IV, sind also in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfasst. Darunter befinden sich 399.000 Personen im erwerbsfähigen Alter und 204.000 Kinder. Insgesamt leben in Deutschland rund 1,5 Millionen Kinder von Hartz IV. Die in den vergangenen Wochen so hitzig diskutierten Sanktionsmöglichkeiten fallen derzeit kaum ins Gewicht. Aktuell werden laut Arbeitsagentur die Leistungen von nur 0,9 Prozent der erwerbsfähigen Hartz-VI-Beziehenden sanktioniert. Im Juli gab es 32.687 Menschen mit mindestens einer Sanktion, teilte die Arbeitsagentur mit.
Dass derzeit so wenige Sanktionen verhängt werden, liegt an einer Vorgabe, wonach die Jobcenter bis Mitte 2023 keine Sanktionen bei Pflichtverletzungen anordnen dürfen - beispielsweise wenn sich jemand weigert, eine Arbeit anzunehmen. Nur bei wiederholten Meldeversäumnissen dürfen die Jobcenter die Leistungen um maximal zehn Prozent mindern. Das trifft zu, wenn Menschen zum Beispiel mehrmals zu vereinbarten Terminen nicht erscheinen. Das Moratorium sollte ein Zwischenschritt zum Bürgergeld darstellen - schon während der Corona-Pandemie waren Sanktionen zeitweise ausgesetzt.
Die in den vergangenen Wochen so hitzig diskutierten Sanktionsmöglichkeiten fallen derzeit kaum ins Gewicht. Aktuell werden laut Arbeitsagentur die Leistungen von nur 0,9 Prozent der erwerbsfähigen Hartz-VI-Beziehenden sanktioniert. Im Juli gab es 32.687 Menschen mit mindestens einer Sanktion, teilte die Arbeitsagentur mit. Dass derzeit so wenige Sanktionen verhängt werden, liegt an einer Vorgabe, wonach die Jobcenter bis Mitte 2023 keine Sanktionen bei Pflichtverletzungen anordnen dürfen - beispielsweise wenn sich jemand weigert, eine Arbeit anzunehmen. Nur bei wiederholten Meldeversäumnissen dürfen die Jobcenter die Leistungen um maximal zehn Prozent mindern. Das trifft zu, wenn Menschen zum Beispiel mehrmals zu vereinbarten Terminen nicht erscheinen. Das Moratorium sollte ein Zwischenschritt zum Bürgergeld darstellen - schon während der Corona-Pandemie waren Sanktionen zeitweise ausgesetzt.
Wie Gerichte über Hartz-IV-Fälle urteilen
Die Sozialgerichte in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren mit zahlreichen, kuriosen Fällen befasst. Etwa mit dem Fall eines 24-jährigen Hartz-IV-Empfängers, der monatlich 50 Euro von seiner Großmutter bekam. Mit dem Taschengeld sollte er Bewerbungskosten finanzieren. Das Jobcenter wollte es ihm aber auf den Regelsatz anrechnen. Die Richter des Düsseldorfer Sozialgerichts gaben jedoch dem jungen Mann Recht und entschieden, dass er das Geld behalten darf.
Die Wohnungsgröße eines Vaters beschäftigte das Sozialgericht in Dortmund: Ein Langzeitarbeitsloser, der von seiner Frau getrennt lebt und regelmäßig Besuch von seinen Kindern bekommt, durfte in eine größere Wohnung umziehen. Die Richter entschieden, dass das Jobcenter die höheren Mietkosten bezahlen muss. Weil es sich bei dem Antragsteller und seiner Tochter um eine temporäre Bedarfsgemeinschaft handele, sei eine Wohnung von 40 Quadratmetern zu klein, hieß es. Nach Auffassung des Gerichts benötigte das Kind zumindest ein kleines eigenes Zimmer.
Menschen sind nach Ansicht desselben Gerichts nicht dazu verpflichtet, sparsam mit Geld umzugehen, auch wenn sie später Hartz IV beantragen müssen. Der Entscheidung lag einem Fall zugrunde, in dem ein 41-Jähriger in zwei Jahren circa 130.000 Euro ausgab und dann Grundsicherung beantragte. Der Mann litt am Asperger Syndrom und konnte deswegen offenbar nicht haushalten. Die Behörde warf ihm vor, er hätte seine Hilfsbedürftigkeit fahrlässig verursacht und forderte bereits gezahlte Leistungen zurück. Doch in Dortmund urteilten die Richter, dass Menschen nicht zur Sparsamkeit verpflichtet sind. Eine Ausnahme machte das Gericht aber: Wenn Menschen ihr Geld ausgeben, um möglichst schnell Hartz IV zu erhalten.
Das Sozialgericht in Wiesbaden musste sich mit dem Kalorienbedarf von Müttern befassen: Zwei Frauen, die ihre Kinder noch stillten, wollten wegen des erhöhten Kalorienbedarfs mehr Leistungen vom Jobcenter einklagen. Das Sozialgericht urteilte allerdings, dass sie darauf kein Anrecht hätten. So unterscheide sich der individuelle Kalorienbedarf erheblich, je nach körperlicher Anstrengung, Gewicht und Größe, erklärten die Richter. Zudem sieht das Gesetz nur einen Mehrbedarf während der Schwangerschaft vor, hieß es.