Gemeinsam sind der SPD-Chef und der Kölner Fraktionschef der Partei in Kiew. Sie bieten der Ukraine Unterstützung an – und kitten Risse in der SPD.
Lars Klingbeil und Rolf MützenichBei Klitschkos und Selenskyi – ein Tag mit der SPD-Spitze in Kiew
Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko führt die beiden hohen Besucher aus Deutschland dorthin, wo es wehtut. Tief im Herzen. Er zeigt ihnen auf dem geschichtsträchtigen Maidan-Platz in Kiew die Fotos der Männer und Frauen, einige von ihnen noch blutjung, die hier vor bald zehn Jahren ihr Leben ließen für die Demokratie. So wie jetzt Zehntausende Landsleute im russischen Angriffskrieg den Tod finden, um die Freiheit zu verteidigen – die eigene und die Freiheit Europas.
Eine Kämpfer-Nation, die dafür aber noch viel mehr Waffen brauche, sonst würde der größenwahnsinnige Kremlchef Wladimir Putin weiter nach Westen vordringen und der Tod vieler Ukrainer völlig sinnlos gewesen sein – das ist die Botschaft, die die SPD-Spitzenpolitiker Lars Klingbeil und Rolf Mützenich am Montag in Kiew von ihren Gesprächspartnern zu hören bekommen. Wenn man die Bilder der Jungen sieht, die auf dem Maidan starben, drängt sich einem aber unweigerlich ganz grundsätzlich eine Sinnfrage auf. Warum? Warum, es nicht in Frieden geht.
Auf dem Programm: ein Gespräch mit Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj
„Deutschland und Europa werden keine sicheren Orte zum leben sein, wenn die Ukraine nicht gewinnt“, mahnt Außenminister Dmytro Kuleba. Er verhaspelt sich in der gemeinsamen Pressekonferenz und nennt die Sozialdemokraten versehentlich Christdemokraten - und entschuldigt sich sofort. Der Grund für seine Irritation: Er habe gerade ein Video gesehen, auf dem gezeigt werde, wie ein ukrainischer Kriegsgefangener von Russen hingerichtet werde. Grausame Wirklichkeit einer Nation im Krieg.
Klingbeil und Mützenich treffen die oberste Riege in Kiew: Neben Kuleba noch den Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk und Premierminister Denys Schmyhal. Und am Abend kommt es auch noch zu einem Gespräch mit Präsident Wolodymyr Selenskyj. Mehr Aufmerksamkeit können der Parteichef und der Bundestagsfraktionschef nicht bekommen. Es ist ein Zeichen, wie sehr Kiew auf Deutschland zählt.
„Dass die SPD-Spitze heute da ist, ist wahnsinnig wichtig“, sagt Klitschko. Er meint das aber im Sinne der SPD. Menschen bräuchten persönliche Eindrücke. „Wenn man in Berlin sitzt, hat man einen ganz anderen Blickwinkel. Mit Ferndiagnosen für ein Land im Krieg liegt man oft daneben, wenn man diese unter den guten und sicheren Bedingungen der Demokratie trifft.“ Es sei gut, wenn Sozialdemokraten ihre frühere unkritische Nähe zu Russland reflektierten. Es sei aber nicht Ok, wenn die Ukraine nicht schnell genug neue Waffen und Munition bekäme. Das koste Menschenleben.
Mützenich: „Diplomatie ist eben nicht misszuverstehen als Verhandlung mit Putin“
Klingbeil betont, sie wollten ein Jahr nach Kriegsausbruch die Aufmerksamkeit weiter hochhalten - „und dafür sorgen, dass die Unterstützung der Ukraine weitergeht - militärisch, politisch, finanziell“. Er spricht die schnelle Anbindung der Ukraine an die Europäische Union an und thematisiert auch den in der Ukraine seit Wochen beklagten Mangel an Munition. Letztlich wird sich dieser Krieg daran entscheiden, wem die Munition nicht ausgeht.
SPD-Fraktionschef Mützenich – Abgeordneter aus dem Kölner Bundestagswahlkreis III (Ehrenfeld, Nippes, Chorweiler) – erklärt, jeder demokratische Staat, insbesondere westliche Partner müssten das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen. Er pocht zudem auf diplomatische Bemühungen, betont aber: „Diplomatie ist eben nicht misszuverstehen als Verhandlung mit Putin.“ Er meint Partner als Vermittler wie Indien, Brasilien, China, die noch Einfluss auf Russland haben.
Es ist das erste Mal, das Klingbeil und Mützenich seit Russlands Überfall am 24. Februar 2022 in der Ukraine sind. Es wird nicht spurlos an ihnen vorübergehen. Es macht eben tatsächlich einen Unterschied, ob man im sicheren Berlin um Waffenlieferungen für die Ukraine ringt oder im unsicheren Kiew bei Luftalarm darauf hofft, dass einem keine russische Rakete auf den Kopf fällt.
Oder wenn man durch das Regierungsviertel fährt und die Fenster der unteren Stockwerke mit Sandsäcken verbarrikadiert sind, ebenso die Eingänge. „Hinter Säcken kann man sich gut verstecken“, witzelt ein Dolmetscher. Den Humor haben sie ihnen hier nicht genommen. Die Sandsäcke sind nicht nur Schutz, sondern auch Schießscharte. Ein Leben in der Politik, das man sich in Deutschland schwer vorstellen kann.
Deutsches Luftverteidigungssystem hilft, Kiew zu schützen
Dass ein Jahr und zehn Tage nach Putins Überfall auf das Nachbarland am Montag in der Hauptstadt keiner losläuft, als die hier zur Normalität gewordene Sirene ertönt, hat aber durchaus auch mit Deutschland zu tun. Dank des gelieferten Luftverteidigungssystem Iris-T könnten die meisten Angriffe abgewehrt werden, heißt es. Vizeverteidigungsminister Andrii Schewtschenko überreicht Klingbeil und Mützenich ein Gastgeschenk der besonderen Art: Splitter einer abgeschossenen russischen Rakete.
Und doch bleibt die Lebensgefahr bestehen. Neulich schlug wieder eine Bombe auf einem Spielplatz ein. Im Osten des Landes liefern sich ukrainische und russische Truppen eine brutale Schlacht wie Europa sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt habe, sagen Diplomaten. Es sei ein Krieg, der am Ende dadurch entschieden werde, wer über mehr Militärgerät und mehr Menschen verfüge - und sie zu opfern bereit sei.
Mützenich wirkt ein wenig verloren, wenn er zwischen Klitschko und Klingbeil steht, den beiden fast zwei Meter großen Männern, der ehemalige Boxer in olivfarbener Steppjacke, der SPD-Parteichef im gleichfarbigen Parker. Sie umarmen sich, sie sind die jüngere Generation, entschlossen zur Führung. Klitschko mit seinem Bruder, dem Bürgermeister Vitali in Kiew. Klingbeil in Deutschland. Als „Führungsmacht“ sieht er die Bundesrepublik gar und will das nicht rein militärisch verstanden wissen, sondern als Kraft für die Werte der Demokratie und ihrer Verteidigung in einem „Zentrum“ gleichgesinnter Staaten.
Mützenich fühlt sich sichtlich unwohl, wenn die Kameras angehen während er die Bilder der Toten anschaut. Am liebsten wäre er inkognito gereist. Aber der Besuch in Kiew soll nicht nur das klare Signal der Unterstützung für die Ukraine senden, sondern auch eines der Geschlossenheit von SPD-Partei und -Fraktion.
Der 63-jährige Bundestagsfraktionschef hatte in den vergangenen Monaten immer wieder gemahnt, neben Waffenlieferungen an die Ukraine auch die Diplomatie mit dem Ziel eines Waffenstillstands zu verstärken. Ihm und jenen Sozialdemokraten, die Russland in der Vergangenheit eng verbunden waren und Waffenlieferungen zunächst zurückhaltend gegenüberstanden, wurde das vor allem in der Ukraine mangelnde Solidarität mit Kiew vorgehalten.
Mützenich am Maidan: „Es ist für ich bedrückend“
Mützenich hat eingeräumt, dass er Putins Brutalität unterschätzt habe. Aber er stehe damit nicht alleine da. Auch in deutschen Zeitungen sei die Entwicklung nicht richtig wieder gegeben worden. „Deswegen bin ich manchmal etwas verwundert über diejenigen in Deutschland, die angeblich immer alles gewusst haben. Ich habe nicht alles gewusst“, sagte er schon vor einigen Tagen.
Über die Toten vom Maidan sagt Mützenich: „Es ist für mich bedrückend.“ Der langjährige Außenpolitiker hat aber schon viel Leid in seinem Leben gesehen. Und gerade deshalb lässt er nicht von seiner Forderung nach Diplomatie abbringen. Klingbeil und er verstehen sich beide als politische Erben des früheren Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt. Welchen Kurs Brandt heute in dieser Zeitenwende wohl fahren würde? Den ihren, sind sich beide sicher. Denn schon Brandt habe auf beides gesetzt: militärische Stärke und Diplomatie.
Um zu erklären, in welch tiefer Krise Europa durch Russlands Krieg steckt, berufen sich Klingbeil und Mützenich auch gleichermaßen auf einen italienischen Marxisten, der vor dem Zweiten Weltkrieg die Zerstörung der Zivilisation durch die Faschisten erahnte. 1937 schrieb Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Im Bundestag hatte Mützenich in der vorigen Woche in der Debatte über das erste Kriegsjahr betont, Putin sei für ihn ein „Monster“.
Wladimir Klitschko hält eine spätere Aussöhnung mit Russland trotz des derzeitigen völkerrechtswidrigen Angriffskrieges bei einer historischen Geste wie einst Brandt für möglich. „Die Geschichte hat schon gezeigt, dass kriminelle Regime vieles zerstören können. Aber das Leben kann man nicht stoppen“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Dafür müsste aber diese Voraussetzung erfüllt sein: „Wenn der russische Präsident nach Kiew kommt und auf die Knie geht und um Verzeihung bittet und Reparationen zahlt, wird das ukrainische Volk sagen, es ist an der Zeit, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen.“ Der Kniefall des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt in Warschau sei ein Beispiel für eine solche Versöhnung.
Klingbeil und Mützenich waren von Berlin nach Rzeszow im polnischen Karpatenvorland geflogen und von dort nach Przemysl nahe der ukrainischen Grenze gefahren, von wo sie über Nacht gut zehn Stunden mit einem Sonderzug in die ukrainische Hauptstadt fuhren. Einer der Waggons erinnert ein wenig an das Interieur des Zuges in dem Western „Spiel mir das Lied vom Tod“. Daran will hier aber keiner denken. Denn es ist ein Zug ins Leben. Für die Ukraine, für Europa. Und irgendwann auch für Frieden mit Russland. Das soll die Botschaft sein.