Manfred Lütz im Interview„Ich habe kein einziges Gutachten gemacht“
- Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz über seine Rolle im Umgang mit Missbrauch und das „System Meisner“.
Herr Lütz, beide Missbrauchsgutachten setzen Fragezeichen hinter die Rolle der psychologischen Gutachter. Die Münchner Studie spricht von „monopolartigen“ Verhältnissen. Sie waren, wie im Gercke-Gutachten zu lesen, Teil einer kleinen Gruppe von Fachleuten, denen das Erzbistum vertraute. Haben Sie sich etwas vorzuwerfen?Manfred Lütz: Die Behauptung im Gercke-Gutachten, dass ich „vielfach als Gutachter eingesetzt“ worden sei, ist falsch. Ich habe kein einziges Gutachten bei diesen Fällen gemacht. Und das aus gutem Grund. Denn ich habe schon 2004 die Bischofskonferenz darauf hingewiesen, dass die üblichen katholischen Psychiater jedes Bistums für solche Fragen in der Regel völlig ungeeignet sind. Ich habe geraten, dafür externe forensische Psychiater zu nehmen und bin in diesem Punkt mit Björn Gercke völlig einverstanden. Es ärgert mich deswegen, dass sein Gutachten in diesem Zusammenhang meinen Namen erwähnt. Ich habe ihm das geschrieben, und er hat die Gutachterbehauptung damit entschuldigt, dass Juristen einen weiteren Gutachten-Begriff hätten. So wird ein Dreizeiler, in dem ich feststelle, dass keine therapiebedürftige Störung und folglich kein Therapiebedarf vorliege, zum „Gutachten“. Ich habe Priester behandelt und nach Befreiung von der Schweigepflicht fachärztliche Stellungnahmen abgegeben.
Im Fall von Pfarrer F., der in beiden Gutachten dargestellt ist und über den auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet hat, kam der Täter später nach einer erneuten psychologischen Begutachtung dann doch wieder zum Einsatz.
Das ist ein sehr gutes Beispiel, warum ich mit Herrn Gercke der Meinung bin, dass kirchliche „Gutachter“ in solchen Fällen völlig ungeeignet sind. 1997 war ein wirklich perfider Fall von Missbrauch durch diesen Priester bekanntgeworden. Die juristischen Fachleute im Generalvikariat waren aus mir überhaupt nicht nachvollziehbaren Gründen der Auffassung, dass man da nichts machen könne, weil die Zeugen nicht aussagen wollten. Stattdessen wollte man ihn mir „zur Therapie“ schicken. Daraufhin habe ich noch vor dem Termin, um nicht der Schweigepflicht zu unterliegen, direkt ein empörtes Fax an Kardinal Meisner geschrieben und für die sofortige Suspendierung plädiert.Dazu kam es noch am selben Tag, wie ich erst jetzt dem Gercke-Gutachten entnehme. Doch dann schaltete der Täter den Leiter einer katholischen Beratungsstelle als Therapeuten ein, und der plädierte tatsächlich nach zwei Jahren Therapie für einen Wiedereinsatz. Auch das lese ich erst jetzt. Schrecklich!
In wie vielen Fällen gab es denn bei den von Ihnen behandelten Geistlichen „Rückfälle“?
Ich weiß von keinem, aber da kann man sich nie sicher sein. Psychiater, die behaupten, ihre Patienten hätten ganz sicher nie Rückfälle, sind wissenschaftlich nicht seriös.
War das Vorgehen der Psychologen also aus Ihrer Sicht in Ordnung? Im Fall eines ehemaligen Kölner Priesters und Missbrauchsopfers hat der damit befasste Aussagepsychologe sein Urteil allein auf Therapieberichte gegründet. Das Erzbistum selbst erklärt dies aus heutiger Sicht für unzureichend.
Der Experte, von dem Sie sprechen, ist Professor Max Steller, Deutschlands wichtigster Aussagepsychologe. Er hat das entscheidende Gutachten zu Falschbeschuldigungen im berühmten „Wormser Fall“ geschrieben. Er hat den Freispruch des TV-Moderators Andreas Türk bewirkt, und seine Auffassungen wurden vom Bundesgerichtshof für alle Gerichte als Standard benannt. Die Schilderungen des von Ihnen genannten Betroffenen hat Steller für nicht erlebnisbasiert gehalten, wobei sehr wichtig ist, dass er damit keineswegs behauptet, dass der Betroffene gelogen habe. Wenn Skeptiker überzeugt werden sollen, die immer noch nichts begriffen haben und behaupten, Missbrauchsvorwürfe sei alle nur erfunden, dann muss man wissenschaftlich überzeugend sicherstellen können, dass keine Unschuldigen beschuldigt werden.
Das könnte Sie auch interessieren:
Was Sie selbst betrifft, stellt das Gercke-Gutachten wegen Ihrer Beratertätigkeit unter anderem für den Vatikan Ihre Unabhängigkeit oder Unbefangenheit in Frage.
Gercke hat mir geschrieben, dass er das ausdrücklich nicht tue. Er behaupte nicht, dass meine fachlichen Einschätzungen nicht objektiv getroffen worden seien. Er habe nur von dem Eindruck gesprochen, den Betroffene haben könnten, wenn Sie erführen, dass ich Prognosegutachten machte. Und damit hätte er sogar Recht. Ich habe aber keine Prognosegutachten gemacht.
Warum haben Sie Ihr Ansehen bei Kardinal Meisner nicht dazu genutzt, das „System Meisner“ zu durchbrechen, das den „Brüdern im Nebel“ grundsätzlich zugeneigter war als den Missbrauchsopfern?
Na ja, das „System Meisner“ erscheint mir jetzt so ein angesagter Kampfbegriff zu sein. Wenn ich die Gutachten richtig lese, bestand das System Meisner darin, kein System zu haben – und das war ein Problem. Er hat in Köln nach seinem Wechsel aus Berlin eben kein System aufgebaut, sondern in der Bistumsverwaltung personell und strukturell im Wesentlichen alles so belassen, wie er es vorgefunden hat, angefangen beim Generalvikar.
Aber noch einmal: Die „Brüder im Nebel“ standen ihm näher als die Opfer. Das ergibt sich aus den Gutachten, am deutlichsten aus dem Münchner.
Der Vorwurf stimmt. Vor allem hat er sich nicht um die Opfer gekümmert und das „seinen Leuten“ überlassen. Erst in seinen letzten Lebensjahren habe ich ihn anders erlebt. Er hat mir selbst erzählt, wie sehr ihn die Geschichten der Opfer angerührt haben, mit denen er sich getroffen hat. Einmal war es eine Frau, die ihn auf der Straße angesprochen hat, obwohl der Täter gar kein Kirchenmann war.Er hat sie eingeladen und lange mit ihr gesprochen. Er war erschüttert. Man hat mir auch erzählt, wie wütend er war, als die Glaubenskongregation der Suspendierung von Pfarrer F. nicht zugestimmt hat. Er habe da angerufen und sei heftig geworden, habe aber nichts erreicht. Aber wie gesagt, das entschuldigt nicht sein früheres Verhalten oder Nichtverhalten.
Der Satz, er habe vom Missbrauchsskandal „nichts geahnt“, stammt aus dem Jahr 2015.
Ein schlimmer Satz, ja.
Die zwei Gutachten liegen jetzt vor, das eine ganz offen, das andere immerhin zur Einsicht für Interessierte. Ist damit alles gut im Erzbistum?
Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich die Menschen verstehen konnte, die empört waren, dass ein vielfach angekündigtes Gutachten plötzlich unter Verschluss kommen sollte. Die Kommunikation war katastrophal, und dafür hat sich Kardinal Woelki auch ohne Wenn und Aber entschuldigt. Wenn damals schon erklärt worden wäre, dass am 25. März 2021 das ungeschwärzte Münchner Gutachten eingesehen werden und dass auch darüber berichtet werden kann, wäre vieles anders gelaufen. Noch schlimmer fand ich als Psychotherapeut die Instrumentalisierung der Betroffenenvertretung. Es hat mir wirklich Tränen in die Augen getrieben, im WDR-Fernsehen Beiträge über die retraumatisierten Betroffenen zu sehen, die nun nicht mehr schlafen konnten. Ich gestehe, dass ich da auch mit meinem Ortsbischof gehadert habe. Deswegen hat es mich aber so sehr berührt, als Kardinal Woelki in seiner Pressekonferenz – abweichend vom Redetext - sehr ernst und offen, um jedes Wort ringend, auch eigene Schuld eingestanden hat. Ich finde, dass nur so ein Neubeginn gelingen kann, wenn alles auf den Tisch kommt. Und das sehen auch viele andere so. Übrigens kann ich jetzt, nachdem ich das WSW-Gutachten gelesen habe, verstehen, warum das nicht reichte.
Nämlich?
Es ist wirklich viel schlechter, viel diffuser, hält sich in allgemeinen Charakterstudien auf. Gercke ist viel konkreter. Und vor allem: Jeder kann das jetzt im Internet nachlesen und sich ein eigenes Urteil bilden.
Also kann Kardinal Woelki jetzt auch guten Gewissens im Amt bleiben?
Ich habe schon lange beklagt, dass seit 2010 kein einziger Kirchenmann klar Schuld eingestanden hat und zurückgetreten ist. Auch jetzt ist ja trotz allem enttäuschend, dass niemand „freiwillig“ zurückgetreten ist, sondern erst unter Druck. Aber die reine Fixierung auf Rücktritte bringt uns auch nicht weiter. Ich finde, man sollte Kardinal Woelki jetzt erstmal abnehmen, dass er Konsequenzen aus dem Gutachten und auch aus dem schwierigen Prozess des vergangenen Jahres ziehen und nicht weglaufen will. Was wäre denn die Alternative? Ein Jahr auf einen neuen Erzbischof warten, Chaos im Bistum. Niemand hat die Autorität, die nötigen, vielleicht auch weitreichenden Entscheidungen zu fällen. Wäre das besser? Die Fixierung auf die reinen Zahlen im Gercke-Gutachten, die dann ja sofort zu Rücktritten führte, hat übrigens auch einen Nachteil. Hier geht es eingestandenermaßen nur um Recht, nicht um Gerechtigkeit.
Gerade darum wäre es so wichtig gewesen, das Münchner Gutachten heranzuziehen.
Darin werden die Personen eher pauschal abgekanzelt, bei Gercke kann man Konkretes lesen. Aber tatsächlich war zum Beispiel der jetzige Hamburger Erzbischof Stefan Heße der beste Personalchef, den ich im Erzbistum erlebt habe, engagiert und sehr empathisch im Umgang mit Opfern. Ihn auf die Zahl von elf Pflichtverletzungen zu reduzieren, halte ich nicht für gerecht. Aber das wird Herr Gercke sicher genauso sehen.
Wie soll es mit der Aufarbeitung weitergehen?
Die Bischöfe sind mit alldem überfordert. Ich plädiere schon seit 2010 für eine staatliche unabhängige Untersuchung der katholischen und der evangelischen Kirche, des Deutschen Olympischen Sportbund und anderer Organisationen. Das sollte einer einzigen Kommission anvertraut werden, nicht 27 Kommissionen für 27 katholische Bistümer, wo man dann nichts mehr miteinander vergleichen kann und immer der Verdacht bleibt, die Ergebnisse seien nicht offen und ehrlich. Die Opferverbände sehen das auch so. Und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hat sich neulich zumindest offen für diesen Weg gezeigt.
Das Gespräch führte Joachim Frank